"Tausendundeine Nacht" als Reflexion von Geschlechterverhältnissen: Angelin Preljocajs Stück "Les Nuits" am Festspielhaus St. Pölten kennt keine Scheu vor dem Populären.

Foto: Jean-Claude Carbonne

St. Pölten - Zwei Schlüsselszenen in dem modernen Ballett Les Nuits des französischen Choreografen Angelin Preljocaj (56) sind von James Browns Hit This Is A Man's World aus dem Jahr 1966 begleitet. Das Stück wurde im Festspielhaus St. Pölten zum Einstand der neuen Intendantin Brigitte Fürle erstmals in Österreich gezeigt. Schon am 12. Oktober folgt Alain Pla- tels Tanz-Musiktheater-Arbeit C(h)oeurs, um das sich Fürle mit der künftigen Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, Frie Leysen, gematcht haben soll und dabei offenkundig gewonnen hat.

Mit den beiden Einsätzen von This Is A Man's World sind bei Preljocaj zwei andere Matches gemeint. Erst das zwischen Mann und Frau. Und dann jenes um die Emanzipation der Homosexualität. Einmal ertönt Brown zum Tanz von einem Dutzend gleich gekleideter Revuegirls, die unvermittelt "Fuck off" zeigen. Und später zu einem Quartett, das von Männern in Latex-Outifts vor zwei Spiegeln bestritten wird, Griff ans Gemächt inklusive.

Das soll kein Abfeiern brünstiger Hetero-Machos sein, sondern ein Hinweis auf das Klischee vom Schwulsein im "uneinigen" Spiegel der Gesellschaft. Wenn man nun weiß, dass Les Nuits ein Auftragswerk der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Marseille ist und Preljocaj als explizit politisch denkender Künstler gilt, wird klar, dass dieses Stück ein Ziel hat: Da sollten in Marseille als Brennpunkt sozialer und kultureller Verwerfungen im stark rechtslastigen Süden Frankreichs klare Botschaften vermittelt werden.

Daher sind die beiden This Is A Man's World-Szenen in eine Auseinandersetzung des Choreografen mit den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht verpackt. Sie gelten als im "okzidentalen" und im "orientalischen" kollektiven Gedächtnis gleichermaßen verankert und wirken als Brücke zwischen den beiden Kulturen. Preljocaj kennt keine Scheu vor populärer Ästhetik und arbeitet mit seiner Compagnie in der Region (Aix-en-Provence). Er integriert seine aufklärerische Medikation in eine Abfolge effektvoller Bilder mit eingängiger Musik von Natacha Atlas und Samy Bishai, magischer Beleuchtung (Cécile Giovansili-Vissière) sowie reizvollen Kostümen des renommierten Designers Azzedine Alaïa. Dabei wird wie selbstverständlich auch mit einem gewissen Maß an Kitsch gespielt.

Geschickt und effektvoll

Dabei bietet Preljocajs Ensemble von 18 ausgezeichneten Tänzerinnen und Tänzern ein Ballett, das weder durch choreografische Innovation wie William Forsythe noch durch virtuosen Hochleistungstanz wie Édouard Lock besticht, sondern durch geschickt und effektvoll gesetzte Bewegungsabfolgen, in die ganz bewusst irritierende Elemente gesetzt sind. Preljocaj reduziert den Einsatz von orientalisch wirkenden Gesten auf ein Minimum. Zudem bricht er den Fluss der Bewegungen an charakteristischen Stellen eines Ablaufs, der keine Nacherzählung von Scheherazades Geschichten darstellt.

Tausendundeine Nacht wird hier alles andere als nur "vertanzt", sondern nach dem Quellenstudium des Choreografen kritisch reflektiert und mit der Gegenwart in Bezug gesetzt. Weder Scheherazade noch der schlussendlich bekehrte Frauenmörder König Schahrayâr scheinen als Figuren auf. Denn es geht allgemeiner um das Prinzip des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen. Dass dabei der erotische Aspekt zum Generator der Atmosphäre im Stück hervorgehoben ist, kann als Botschaft an islamistische wie katholische oder puritanische Körperfeindlichkeit gelesen werden. Unter Islamisten gelten die Geschichten ja als dekadent.

Nancy Sinatras Song You Only Live Twice aus dem gleichnamigen James-Bond-Film von 1967 zu sechs gleichzeitig getanzten Duetten erinnert dann auch an die verschwitzten erotischen Träume, mit denen Hetero 007 seinerzeit den Kalten Krieg würzte. Auch einige der erotischen Szenen in Les Nuits schweißeln ganz kräftig. An ihnen bleiben auch Teile der emanzipatorischen Botschaft picken. Angelin Preljocaj besteht auf Ambivalenz. Das passt zu unserer Zeit. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 30.9.2013)