"Wir sollten den Kindern, wenn sie zur Welt kommen, anders begegnen, wir sollten sie als vollwertige Individuen in dieser Welt willkommen heißen und nicht davon ausgehen, dass sie leer sind und unserer Belehrung bedürfen", sagt Regisseur Erwin Wagenhofer.

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Es gibt viele starke Sätze in Erwin Wagenhofers neuem Film "Alphabet". Etwa jene des britischen Bildungsexperten Sir Ken Robinson ganz zu Beginn des Films: "Wir haben diese außerordentliche Vorstellungskraft. Jede Form menschlicher Kultur ist die Folge dieser einzigartigen Fähigkeit. Doch ich glaube, dass wir systematisch diese Fähigkeit in unseren Kindern zerstören."

Wenig später nimmt Wagenhofer den Kinobesucher mit in eine Diskussionsrunde von jungen Führungskräften, die am Wettbewerb "CEO of the Future" teilnehmen. Diese geben Einblick in ihr Verständnis von Führungsqualifikationen: "Mein idealer Topmanager? Leistungsorientiert muss er sein. Alles andere ist egal."

Mehr als Bildung

Nach "We Feed the World" und "Let's Make Money" hat sich Wagenhofer einem Themenkomplex zugewandt, der meist unter "Bildung" subsumiert wird, eigentlich aber eine Beschäftigung damit ist, wie wir mit den Kleinsten unserer Gesellschaft, wie wir mit den Kindern umgehen.

Diese Geschichte zeichnet Wagenhofer aus verschiedenen Perspektiven und kehrt im Laufe der Dokumentation immer wieder an die einmal gewählten Drehorte zurück. Etwa zu Michelle Stern, der Mutter jenes André, der heute vielsprachiger Gitarrenbaumeister, Musiker und Buchautor ist, ohne jemals eine Schule besucht zu haben. Und da wartet wieder einer dieser Sätze: "Was man einem Kind schuldet, das ist das Glück", sagt Frau Stern.

"Reißt's euch z'samm"

Wie hat Wagenhofer das eigentlich bei seinen eigenen Kindern gemacht? "Falsch", antwortet er im Gespräch mit derStandard.at, "weil ich das Wissen damals noch nicht gehabt habe." Also habe er gesagt "reißts euch z'samm, schauen wir, dass wir gute Noten kriegen", habe versucht, sie durch Schule und Studium zu treiben. Eine der beiden Töchter, die ihr Jusstudium noch nicht beendet hat, erklärt ihm heute: Wenn sie das Studium überhaupt abschließt, dann nur, damit sie das, was sie begonnen hat, auch beendet. Arbeiten will sie keinen Tag lang in dem System. Wagenhofer versteht das ("Es ist mir ziemlich egal, ob sie das abschließt oder nicht"), zeigt die Einstellung der Tochter für ihn doch nur, wie falsch alles läuft.

Das versucht er auch in "Alphabet" eindringlich zu dokumentieren. Etwa wenn er Bilder jenes Saales zeigt, in dem eine Studie über unangepasstes Denken durchgeführt wird. 1.500 Personen wurden dafür getestet, ab einer gewissen Punkteanzahl galt man als Genie in dieser Disziplin. Und die Ergebnisse? Sind wieder Sätze, an denen die Kinobesucher noch länger zu kiefeln haben werden.

Genialität ist Alterssache

Bei den Jüngsten ist die Fähigkeit, unangepasst zu denken, besonders gut ausgeprägt. So erreichten etwa 98 Prozent der drei bis fünf Jahre alten Kinder das Level "genial". Fünf Jahre später, mit acht bis zehn Jahren, waren es nur mehr 32 Prozent. Weitere fünf Jahre später, als 13- bis 15-Jährige, reduzierte sich die Anzahl derer, die das Level "genial" erreichten, auf zehn Prozent. Und die Vergleichsgruppe von 200.000 Erwachsenen über 25 Jahren schnitt mit zwei Prozent überhaupt sehr bescheiden ab. Für Ken Robinson zeigt diese Entwicklung vor allem zwei Dinge: Dass alle Menschen über die Fähigkeit verfügen, unangepasst zu denken. Dass sie aber bei den meisten im Laufe ihres Lebens verkümmert. Und daran hat das Schulsystem keinen geringen Anteil.

Ändern wird sich nach Ansicht Wagenhofers erst dann etwas, "wenn die Eltern irgendwann zu ungeduldig werden; erst dann wird dort etwas passieren, Veränderungen kommen nie von oben". Dass das mitunter ein mühsamer Weg ist, gibt Wagenhofer gerne zu, "weil man als Elternteil da sehr aktiv sein müsste". Trotzdem gelte auch hier: "Die Schule ist für die Kinder da und nicht die Kinder für die Schule."

Außerdem ist Wagenhofer davon überzeugt, dass Eltern "einen ziemlich großen Handlungsspielraum haben". Denn "sie bestimmen ja in den ersten Jahren, was mit ihren Kindern passiert. Und wenn in dieser Zeit den Kindern die Freude am Leben, am eigenen Spieltrieb und an der Neugierde nicht schon aberzogen wird, dann ist schon mal ein gutes Stück geschafft und gerettet."

Neue Perspektiven einnehmen

Wenn es also nicht nur die institutionalisierte Bildung ist, die unseren Kindern das unangepasste Denken austreibt, welche Haltung brauchen Eltern, um nicht selbst dem Glück ihrer Kinder im Wege zu stehen? Antworten auf Fragen wie diese zu finden ist Wagenhofers Kerngeschäft. Schließlich will er Hoffnung machen, helfen, Ängste abzubauen: "Ich glaube, genau das meint Robinson, wenn er von dem ersten Schritt spricht, der getan werden muss: dass wir unsere Haltung hinterfragen und neue Perspektiven einnehmen. Wir sollten den Kindern, wenn sie zur Welt kommen, anders begegnen, wir sollten sie als vollwertige Individuen in dieser Welt willkommen heißen und nicht davon ausgehen, dass sie leer sind und unserer Belehrung bedürfen." Es müsse Aufgabe der Eltern sein, den Kindern zu helfen, ihre Begabungen zur Entfaltung zu bringen, "dann werden uns die Kinder später viel, viel mehr geben als wir uns je zu träumen gewagt haben".

Derzeit sind für Wagenhofer aber just die Eltern "die größten Bremser". Sie seien es, die etwa in der Schule Noten fordern würden. Dabei "brauchen wir Menschen, die die Bildungssysteme zertrümmern und Neuem Raum geben", formuliert Thomas Sattelberger, der 20 Jahre lang Personalvorstand der Telekom war, wieder so einen Satz im Film, der auch nach dem Besuch von "Alphabet" hängenbleibt. (Karin Riss, derStandard.at, 3.10.2013)