Doron Rabinovici und seine Mutter Schoschana: "Wie rettet man eine Seele? Heute geht man zu einem Psychiater. Damals hieß es: Schließen wir die Tür. So haben wir es auch gemacht, wenn wir ein Lager verlassen haben."

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STANDARD: Ein Sprichwort lautet: Die Zeit heilt alle Wunden. Ist das ein dummer Satz?

Schoschana Rabinovici: Das ist kein dummer Satz. Mein Buch hat anfangs "Die Wunden, die nicht heilen", geheißen. Die Herausgeber meinten, viele würden glauben, es handle sich um medizinische Fragen. Daher haben wir es umbenannt in "Dank meiner Mutter". Ich habe es ihretwegen geschrieben. Ich lebe dank meiner Mutter.

Doron Rabinovici: Alle Wunden heilen sicher nicht.

Schoschana Rabinovici: Seelische etwa.

Doron Rabinovici: Das etwa, was Oma und dir widerfuhr. Es gibt Verletzungen, da gibt es keine heile Welt mehr.

STANDARD: In Ihrem Buch über die schreckliche Zeit in den Konzentrationslagern, über den NS-Terror schon davor, gibt es einen Satz, der lautet: "Von diesem Tag an, einem Tag voller Angst und Panik, hörten wir Kinder auf zu spielen. Ich glaube, wir hörten sogar auf zu singen."

Schoschana Rabinovici: Kinder singen, lachen und spielen. Ihre Themen dafür finden sie im Leben. Wir hatten Kriegsthemen, haben von Toten gesprochen. Dass die Schwester, der Vater, nicht da ist – das ist kein Spiel, das ist die Wirklichkeit.

STANDARD: Ihr Sohn organisiert nun einen Zyklus von Erinnerungsveranstaltungen im Burgtheater. Sie werden dort als "letzter Zeuge" auf der Bühne stehen. Ihre Erwartung?

Schoschana Rabinovici: Ich hoffe, es interessieren sich Leute dafür. Das Wichtige ist, es nicht zu vergessen, damit es sich nicht wiederholt.

Doron Rabinovici: Wir werden das hundertjährige Gedenken an das Novemberpogrom wohl kaum noch mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen begehen. Dieses Projekt geht ganz auf den Text der Überlebenden ein, und die Überlebenden sind dabei auf der Bühne anwesend. Es ist die Verknüpfung. Die Erinnerung bleibt wichtig über das Leben der Überlebenden hinaus.

STANDARD: Sind Sie besorgt, dass diese Zeit eine von vielen Episoden der Weltgeschichte werden könnte?

Schoschana Rabinovici: Das wird es auf alle Fälle werden. So wie man über alles andere auch aus Büchern lernt. Deswegen ist es so wichtig, dass viele Leute diesen Teil der Geschichte weitergeben, damit er länger am Leben bleibt.

Doron Rabinovici: Es wäre ein Glück, wenn wir es als Episode der Weltgeschichte beenden könnten. Die Gefahr ist ja, dass es das eben nicht ist, sondern dass es relevant bleibt. Genozid ist nicht etwas, das es nicht mehr gibt. Du hast mich ja so erzogen, dass du gesagt hast: Wenn die wirtschaftliche Lage schlecht ist, würden die Leute wohl wieder auf die alten Ressentiments zurückgreifen. Dann könnte es wieder losgehen.

Schoschana Rabinovici: Es ist leicht, irgendeiner Gruppe die Schuld zu geben und den Hass zu übertragen. Da fängt das wieder an. Das sehen wir ja überall auf der Welt.

STANDARD: Verstehen Sie Menschen, die sagen: Nach mehr als einem halben Jahrhundert muss doch einmal Schluss sein?

Schoschana Rabinovici: Ich sehe da zwei Arten von Menschen: jene, die Angst haben, dass ihre Familien mitgemacht haben. Und dann die Gruppe, die nicht versteht, dass auch sie einmal Opfer werden könnte. Das ist allerdings ein Irrglaube.

STANDARD: Sie haben in Israel eine Familie gegründet, zwei Söhne bekommen. Wie schwer ist es, mit dem Erlebten zu leben?

Schoschana Rabinovici: Ich habe überlebt wie meine Mutter und mein Onkel, der aber dann bald gestorben ist. Ich habe mich sehr elend gefühlt. Wenn ich ein Kind auf dem Schoß des Vaters sitzen gesehen habe, war ich automatisch neidig. Daher war es wichtig, ziemlich früh eine Familie zu gründen. Ich konnte sagen: Ich hab was, das gehört mir, und ich gehöre denen. Mein älterer Sohn hat oft gesagt, er habe so ein komisches Gefühl, die Familien in Israel hätten Großväter, Onkeln und Tanten. Und von unserer Seite? Nichts. Deshalb hat er gedrängt, dass wir nach Vilnius fahren und dass wir eruieren, wer wir sind. Wir haben den Stammbaum ausfindig gemacht. Das erste Verzeichnis der Einwohner von Vilnius stammt aus dem Jahr 1740. Da gab es uns schon. Ein Verwandter ist 1905 nach Amerika ausgewandert.

Doron Rabinovici: Die jüdische Gemeinde wurde von den Nationalsozialisten vernichtet, ihre Papiere nicht. Meine Mutter war schon vorher, Ende der 1980er-Jahre, mit meinem Vater dort. Damals gab es ein Fußballspiel der Austria gegen die Mannschaft von Vilnius. Mein Vater interessiert sich für Fußball, meine Mutter nicht. Aber in diesem Fall fuhr sie als Schlachtenbummlerin zum Match, um Vilnius aufzusuchen zu können.

Schoschana Rabinovici: Vilnius lag damals noch in einem militärischen Sperrgebiet. Das Spiel war eine Gelegenheit. Wir sind mit diesen 17 Schlachtenbummlern losgefahren. Dort hat mein Mann dann gebeten, eine größere Führung auch zum Ghetto zu machen. Es sind sogar alle in einem Bus mit uns nach Ponar gefahren – jenem Ort, an dem hunderttausend Menschen erschossen worden sind.

STANDARD: Gibt es das Haus noch?

Schoschana Rabinovici: Ja. Es gibt das Haus, wo mein Großvater gelebt hat.

Doron Rabinovici: Heute ist es ein Museum der litauischen Nation. Meine Mutter ging mit uns durch das Museum, und sie wusste immer, wie der nächste Raum sein wird.

Schoschana Rabinovici: Die Fremdenführerin wusste es ja nicht! Dabei war ich dort nur als Kind.

STANDARD: Haben Sie Ihren Kindern von Ihrem Schicksal erzählt?

Doron Rabinovici: Die Tatsache, dass wir Juden sind, wo es eine Verfolgungsgeschichte gegeben hat, erfuhr ich nicht von meinen Eltern, sondern eher von meiner Großmutter. Die Oma hat darüber gesprochen.

Schoschana Rabinovici: Ja? Mit mir nicht.

Doron Rabinovici: Sie hat das nebenbei fallengelassen.

Schoschana Rabinovici: Wenn wir etwas im Fernsehen gesehen haben, haben wir Kommentare abgegeben.

Doron Rabinovici: Wie viel ich gewusst habe, ist schwer zu sagen. Aber die Erwachsenen haben miteinander geredet, man bekommt etwas mit, ohne dass sie es bemerken.

Schoschana Rabinovici: Ich durfte als Kind darüber nicht sprechen. Ich bin mit neun Jahren ins Ghetto gekommen – dann in die Konzentrationslager. Meine Mutter hat dann gesagt: Wir haben unsere Knochen gerettet, jetzt müssen wir unsere Seele retten. Wie rettet man eine Seele? Heute geht man zu einem Psychiater. Damals hieß es: Schließen wir die Tür. So haben wir es auch gemacht, wenn wir ein Lager verlassen haben. Jetzt schließen wir die Tür, es fängt ein neues Kapitel an. So, glaubte meine Mutter, wird die Seele gesund.

Doron Rabinovici: Es ist eine der unglaublichen Qualitäten des Buches meiner Mutter, dass es so exakt ist. Meine Tochter ist neun Jahre alt. Ich kann sie nicht damit konfrontieren, was meine Mutter im selben Alter durchmachen musste.

STANDARD: In den 1960er-Jahren sind Sie nach Wien, eine Stadt auch voller Täter, gezogen.

Schoschana Rabinovici: Mein Mann hatte beruflich hier viel zu tun. Ich konnte Deutsch aus der Zeit des Lagers. Das war aber das harte, befehlende Deutsch. Der Wiener Akzent hat mir dann geholfen, mich näher zu fühlen. Andererseits: Wenn wir in der Straßenbahn gefahren sind und mein Mann hat einen älteren Herrn gesehen, dem er seinen Platz anbieten wollte, da habe ich gesagt: Zähle 20 Jahre runter, und du wirst wissen, für wen du gerade aufstehst.

Doron Rabinovici: Es gab eben zwei Seiten. Einer der entscheidenden Massenmörder von Vilnius, der Judenreferent, war Franz Murer. Er war, kurz bevor wir nach Wien gekommen sind, noch Bezirksparteiobmann der ÖVP in Murau. Dann wurde er dank Simon Wiesenthal vor Gericht gebracht – und wurde im Prozess freigesprochen. Dieser Freispruch wurde so gefeiert, dass keine Blumen mehr in Graz zu kaufen waren. Das weiß man, weil ein amerikanischer Tourist an diesem Tag Blumen kaufen wollte und keine mehr fand. Das Waldstück, das verkauft worden ist, damit er die Rechtsanwälte bezahlen konnte, wurde Judenschlag genannt.

STANDARD: Haben die Österreicher aus der Geschichte gelernt?

Schoschana Rabinovici: Ich liebe Wien. Es gefällt mir, hier zu wohnen. Mein Mann hat in Israel viel von der Veranstaltung im Burgtheater erzählt. Leider war eine häufige Reaktion: In Wien? Wo so viele Antisemiten sind?

Doron Rabinovici: Ich glaube, es ist nicht zu leugnen, ohne pauschalisieren zu wollen, dass es Antisemitismus in Europa, in Österreich, in Wien gibt. Umso wichtiger ist es, sich der Erinnerung zu stellen. Gerade gegenüber Antisemitismus ist es sehr wichtig, dass die Erinnerung zu Gehör kommt.

Schoschana Rabinovici: Wir haben die Kinder auch nicht davor zurückgehalten – wenn etwa Dokumentationen im Fernsehen liefen. Deine Tochter darf das heute nicht schauen. Das war damals anders.

Doron  Rabinovici: Ich war auch in ihrem Alter schon in Yad Vashem. Wenn ich meine Großmutter gefragt habe, ob meine Mutter immer so stark war, da sagte sie: "Im Lager nicht!" Da war sie ganz abgemagert. Oder ich hab ziemlich früh erfahren von ihr, dass du geschlagen worden bist. Nicht von ihr. Sondern von einer Aufseherin mit Peitsche. Damals hieß es: Es ging um den Zaun.

Schoschana Rabinovici: Ich war verbotenerweise an den Zaun gegangen, weil meine Freundin in der Krankenbaracke lag.

Doron Rabinovici: Ich will nur sagen: Es war nicht so, dass meine Eltern sich zum Frühstückstisch hingesetzt und mir neben dem Butterbrot noch die Geschichte der Verfolgung erzählt haben.

Schoschana Rabinovici: Man wurde ja auch oft eingeladen. Und die meisten Juden hier in Wien in unserer Generation haben bei Tisch darüber gesprochen.

Doron Rabinovici: Auf unterschiedliche Art und Weise prägt uns diese Geschichte. Stichwort Wunden heilen: Man kann es nicht hundertprozentig darauf zurückführen, aber ganz unabhängig davon ist es nicht, dass mein Bruder Arzt wurde.

Schoschana Rabinovici: Im KZ kann sich ein Arzt besser behaupten, er bekommt noch ein Stück Brot, wenn er jemanden einen Zahn zieht.

Doron Rabinovici: Ja, auch kein Zufall, wenn ich mich so sehr der Geschichte und dem Schreiben widme. Die Erinnerung ist es, was mich prägt.

STANDARD: Ihre Tochter ist auch nach der Großmutter benannt.

Doron Rabinovici: Ihr dritter Vorname ist Raja. Stimmt. Sie weiß auch, dass sie diesen Namen trägt – und es ist sicher kein Zufall.

Schoschana Rabinovici: Unser älterer Sohn heißt Yaron, das heißt in etwa "Er wird sich freuen". Mein Vater hat Isaak – "Er wird lachen" – geheißen. Isaak war mir zu biblisch. Da haben wir praktisch den gleichen Namen aus der Synonymgruppe genommen.

Doron Rabinovici: Wir Kinder sollten ein Triumph über die Vernichtung sein, ein Weiterleben. (Peter Mayr, DER STANDARD, 16.10.2013)