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"Religion im schulischen Alltag wird tendenziell als organisatorischer Störfaktor gesehen, der Streitigkeiten und Differenzen bringt. Und am besten ist demzufolge die Religion, die nicht stört. Das halte ich für ein Problem", sagt Theologe Martin Jäggle.

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STANDARD: Welche Rolle spielt Religion im Leben der Kinder heute noch?

Jäggle: Wenn damit geschichtlich gewachsene Religionen wie das Christentum, der Islam oder das Judentum gemeint sind, dann hängt das stark von den Familien ab, in denen die Kinder aufwachsen. Wie sehr die Familien sie an Religion teilhaben lassen, ihnen erzählen. Wobei es gerade im Judentum auch sehr wichtig ist, dass die Kinder fragen.

STANDARD: Wie stark sinkt die Zahl der Familien, in denen die jeweilige Religion noch praktiziert wird?

Jäggle: Religion als Konvention geht ganz sicher zurück. Das ist in einer Gesellschaft, die immer pluralistischer wird, völlig normal. Gleichzeitig boomt der Markt für religiöse Kinderbücher. Es gibt eine enorme Nachfrage nach Konkretheit und das Bedürfnis, konventionelle Formen zurückzulassen. Von der konventionell christlichen Erziehung, die ja die heutige Großelterngeneration noch miterlebt hat, sagen Religionspädagogen heute, dass sie areligiös mache. Religion war zu sehr ein Erziehungsmittel, um Kinder kleinzuhalten, und es gab zu wenig Raum für Entfaltung.

STANDARD: Ist das ein Spezifikum des Christentums?

Jäggle: Ich habe nicht den Eindruck, dass es ein Spezifikum des Christentums ist, es hat nur etwa im Judentum einfach weniger Platz - weil die eigenständige Auseinandersetzung mit der Tradition und den Regeln ein Kennzeichen des Judentums ist. Die Synagoge heißt auch "die Schul" - warum heißt die Kirche nicht so? Wenn es wenig zum Entdecken und Lernen gibt, aber viel zum Übernehmen und zum Sichanpassen, dann wird der Prozess des Aneignens blockiert. Darum sagen viel Erwachsene heute: "Ich hatte eine kirchliche Vergangenheit."

STANDARD: Dennoch hält der Trend zu konfessionellen, meist katholischen, Privatschulen an.

Jäggle: Es gibt so etwas wie eine Tendenz zur Professionalisierung der religiösen Erziehung. Früher hat die Kirche gesagt: Gebt uns die Kinder, weil euch nicht zu trauen ist - und heute geben manche Eltern Kinder in den Religionsunterricht, weil sie sich völlig verunsichert fühlen. Die Frage ist: Wie kann ich Eltern ermächtigen und unterstützen? Das religiös Entscheidende ist ja das Alltägliche mit jenen, mit denen ich zusammenlebe. Alles institutionell Religiöse ist ja irgendwie am grünen Tisch, abseits des Alltags. Also braucht es die Ermutigung zur eigenen Suche, zum Probieren und Erkunden zu stehen, statt der glatten Profi-Antwort.

STANDARD: Sie sprechen sich für einen überkonfessionellen Religionsunterricht aus. Wie könnte der gestaltet werden?

Jäggle: Religion im schulischen Alltag wird tendenziell als organisatorischer Störfaktor gesehen, der Streitigkeiten und Differenzen bringt. Und am besten ist demzufolge die Religion, die nicht stört. Das halte ich für ein Problem. Das Verschwindenmachen von Differenz verweigert Nachdenklichkeit und Auseinandersetzung.

STANDARD: Warum?

Jäggle: Weil Differenz Denken ermöglicht.

STANDARD: Doch genau diese Unterschiede werden auch instrumentalisiert. Wie kann dem entgegengewirkt werden?

Jäggle: Die Frage nach Differenzfähigkeit für Lehrer und Lehrerinnen ist diesbezüglich grundlegend. Gerade in der Volksschule gibt es eine Art Homogenitätswahn und Befriedungsdruck. Aber nicht jene Schule ist die beste, in der es keine Konflikte gibt, sondern die, die gut mit Konflikten umgeht. Natürlich können Religionen Konflikte verursachen, abgesehen davon, dass Konflikte "religionisiert" werden. Alle Religionen haben genügend Potenzial, um mit anderen respektvoll umzugehen. Und es gibt keine Religion, auf die man sich berufen kann, wenn man andere um der eigenen Religion willen abwerten zu müssen glaubt.

STANDARD: Das klingt jetzt nach einer idealen Welt, aber die Realität sieht oft anders aus. Nicht alle können oder wollen Differenzen positiv sehen.

Jäggle: Differenzen sind nicht per se positiv, aber stellen eine Chance dar. Sie sind anstrengend, führen zu Emotionen, denen sollte man sich stellen. Die Frage ist nicht, warum es viele Religionen gibt, sondern wozu es sie gibt. Faktum ist: Wir brauchen einander.

STANDARD: Wie kann das auf den Alltag in den Schulen umgelegt werden?

Jäggle: Wir haben in Österreich einen konfessionellen Religionsunterricht. Dieser sieht eine klare Verantwortlichkeit vor und die Sichtbarkeit von Differenz. Das hatte eine ganz wichtige Integrationsfunktion etwa für Muslime. Für den konfessionellen Religionsunterricht sind nun Formen der Kooperation wichtig. In Wien gibt es das Modell des konfessionell-kooperativen Religionunterrichts - also katholisch-evangelisch oder katholisch-orthodox. In weiterer Folge sollte es auch einen gemeinsam von Kirchen und Religionsgemeinschaften verantworteten Religionsunterricht geben.

STANDARD: Gibt es ein Beispiel, das sie nennen können, wo bereits überkonfessioneller Religionsunterricht praktiziert wird?

Jäggle: Da fällt mir eine Volksschule in Kärnten ein, in der es in der Woche eine zusätzliche Stunde "Friede" gibt, in der jene, die katholischen, orthodoxen und islamischen Religionsunterricht erteilen, gemeinsam unterrichten - und die Kinder haben ein Heft, auf dessen einer Seite "Religion" und dessen anderer "Friede" steht. (Bettina Fernsebner, DER STANDARD, Family, 26.11.2013)