"Ich bin flyerwerfenden Studierenden näher als sesselklebenden Abgeordneten", sagt Neo-Parlamentarierin Sigrid Maurer. Die neue Position habe ihre Perspektive nicht verändert.

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UniStandard: Ende 2010 wurde Ihnen als ÖH-Vorsitzender wegen des Werfens von Flugblättern und Rufens von Parolen von der Zuschauertribüne des Parlaments ein Hausverbot von 18 Monaten auferlegt. Vor einem Monat sind Sie als Abgeordnete in das Hohe Haus eingezogen - wie ändert sich Ihre Perspektive durch die neue Position?

Maurer: Einen großen Perspektivenwechsel sehe ich nicht. Ich würde auch jede und jeden dazu ermutigen, wenn wieder Wahnsinnigkeiten beschlossen werden, Protestmaßnahmen zu ergreifen. Das Parlament ist nicht dazu da, auf den Sesseln rumzusitzen und zu warten, bis die Zeit vergeht, sondern für die Bevölkerung zu arbeiten, und wenn es da das Wachrütteln braucht, muss das passieren. Doch einen gewissen Rollenwechsel gibt es natürlich - ich kann jetzt schlecht von der Galerie Flyer werfen. Aber ich bin nicht verantwortlich für die Wahrung der Sicherheitsbestimmungen des Parlaments, sondern meine Verantwortung ist, Politik für die Menschen zu machen - und da bin ich den flyerwerfenden Studierenden schon noch näher als sesselklebenden Abgeordneten, die sich hier ein schönes Leben machen wollen.

UniStandard: Was wollen Sie als die neue Wissenschaftssprecherin der Grünen erreichen?

Maurer: Verbesserungen für prekäre Wissenschafter und die Forschungsfinanzierung sind mir große Anliegen. Momentan steht aber noch Schlimmeres an, nämlich: Was passiert mit dem Wissenschaftsministerium? Aktuell wird angeblich diskutiert, Wissenschaft zum Wirtschaftsministerium hinzuzufügen - das erklärt das Wissenschaftsbild der ÖVP sehr gut: Unis müssen immer zweckorientiert sein. Ich zittere um das Wissenschaftsministerium, denn Österreich ist schon so ein intellektualitätsfeindliches Land, und die Wissenschaft weiter zurückzudrängen wäre eine Katastrophe.

UniStandard: Welche Rolle spielen soziale Medien in Ihrem politischen Stil? Sie sind etwa auf Twitter sehr aktiv mit erheiternden und persönlichen Tweets - was ist die Intention dabei?

Maurer: Ich glaube, man braucht ein Verständnis für die jeweiligen Kanäle. Mein Ideal wäre, sich auch in politische Diskussionen auf Twitter einzuklinken bzw. sie dort hinzuholen. Ich weiß nicht, wie mir das gelingen wird - ich will auch meinen Blog wiederaufnehmen, sobald mehr Zeit ist. In der politischen Debatte nimmt man sich oft viel zu wenig Zeit für die relevanten Dinge. Die Diskussion ist dominiert von Sachzwängen. Bevor man sich überlegt, was man erreichen will, überlegt man, was sind die Rahmenbedingungen und wie schränken diese uns ein - das halte ich für fatal, weil man dann nur noch in kleinem Rahmen denken kann. Wenn ich an eine hochschulpolitische Diskussion herangehe und sage: ich hab nur dieses Budget, also geht sich nur das und das aus, bevor ich mich überhaupt frage, was ist die Aufgabe der Hochschule, von Wissenschaft für die Gesellschaft? Da kommen nur Pseudolösungen heraus, die an der Oberfläche kratzen, aber keine Probleme lösen.

UniStandard: Die Grünen sind auf Nationalratsebene stimmenstärkste Fraktion unter den Akademikern, aber nur viertstärkste in der Gesamtbevölkerung - warum sind die Grünen so viel weniger attraktiv für Menschen, die keinen Uni-Abschluss haben?

Maurer: Es gelingt uns nicht, in die Lebensrealitäten der Leute reinzugehen. Die Grünen haben sehr gute Konzepte in vielen Bereichen, aber es gelingt uns nicht, damit die betroffene Zielgruppe zu erreichen. Den Vorwurf der Abgehobenheit muss man sehr ernst nehmen und lernen, die Lebensrealitäten einschätzen zu können - das ist schließlich eine der zentralsten Aufgaben der Politik. Mich betrifft das auch - ich bin in meiner Uni-Blase.

UniStandard: Welche Reformen im Wissenschaftsbereich droht die zukünftige Regierung zu verschlafen und mit welchen Folgen?

Maurer: Wo soll ich da anfangen? Ein wichtiger Punkt ist das Stipendiensystem - wir wissen, dass die Rate der Bezieher weiter sinkt und das Geld nicht ausreicht. Ich bin der Meinung, dass ein Grundstipendium für alle Studierenden ein besseres Konzept ist als die Familienbeihilfe-Regelung - in Österreich behandeln wir Studierende wie studierende Kinder und nicht wie erwachsene Menschen.

UniStandard: Zur sozialen Lage der Studierenden fällt europaweit auf, dass Bildung, die lange Zeit als Garant für Wohlstand gegolten hat, zunehmend diese Garantiefunktion verliert: Prekäre Arbeitsbedingungen betreffen längst die Wissenschafter selbst, und die Arbeitslosenraten von Akademikern steigen in den europäischen Ländern. Was bedeutet das für die junge Generation?

Maurer: Man muss sich ansehen, wie Kapitalismus funktioniert - über immer weitere Landnahme. Und diese geht jetzt in den akademischen Bereich hinein. Ich glaube, dass das noch viel weiter gehen wird. An den österreichischen Unis gab es einen neoliberalen Umbruch, der in anderen gesellschaftlichen Bereichen so nicht da war. Natürlich ist die Prekarität einer Wissenschafterin eine andere als die einer ungarischen Pflegerin im Privatbereich - aber das wird noch weiter um sich greifen. Es gibt eine breitere Arbeiterschaft, die bereit ist, unter den Mindeststandard zu gehen.

UniStandard: Sie haben angekündigt, als Wissenschaftssprecherin die studentische Perspektive statt der professoralen Sicht zu stärken - was ändert sich dadurch?

Maurer: Es gibt viele Leute im Wissenschaftsbereich, denen die realen Rahmenbedingungen an den Unis nicht mehr bewusst sind. Das New Public Management hat eingeschlagen wie eine Bombe auf den Universitäten. Einen Projektantrag schreiben ist zum Alltag für Wissenschafter geworden. Bei jeder Bewerbung, bei jeder Berufung geht es um Drittmittel- und Publikationsrecords. Wissenschaftliche Karriere hat immer einen sehr langen Qualifizierungprozess gehabt, aber wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem das Prekariat der Wissenschafter brutal ist. Wir züchten eine Generation von Wissenschaftern heran, die nicht abgesichert sind, und das wird uns auf den Kopf fallen. Wir haben es mit einer manifesten Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft zu tun.

UniStandard: Welche Folgen wird das haben, oder anders gefragt: Welche Aufgaben der Universitäten sehen Sie dadurch gefährdet?

Maurer: Das ist wahrscheinlich die Frage der Fragen. Wir wissen aus der Geschichte - speziell aus Österreich - dass die Unis nicht in der Lage waren, Widerstand zu leisten. Auch nicht beim neoliberalen Umbruch, den wir jetzt an den Unis hatten. Dennoch ist die Aufgabe von Intellektuellen, genau diesen Widerstand zu leisten. Das sind extrem wichtige Fragen: Wie herrschaftsstabilisierend ist Forschung? Wie funktionieren Forschungsvorhaben, die immer nur Bestehendes evaluieren, aber nie hinterfragen? Was ist kritische Wissenschaft? - Davon haben wir uns weit entfernt. Eine Priorität in den Eingangsphasen liegt auf der Präsentationstechnik - das ist ja nett, aber ich fände es wichtiger, über Wissenschaftstheorie zu diskutieren. Die Universitäten sind nicht dazu da, für die Wirtschaft zu arbeiten. Doch ein großer Teil der Forschung ist völlig unkritisch.

UniStandard: Was kann die Politik tun, um das zu ändern?

Maurer: Da muss ich jetzt etwas Deprimierendes sagen: Ich glaube nicht, dass man da auf die Politik zählen kann. Es ist illusorisch, zu erwarten, dass der Staat sich darum kümmert, dass es widerständige Unis gibt. Das ist Aufgabe der Studierenden und Lehrenden.

UniStandard: Auf der Hompage des Parlaments werden Sie mit "Beruf: Studentin" geführt - inwiefern ist Ihr Alltag noch "studentisch"?

Maurer: Ich schreibe Seminararbeiten und bin viel in der Nationalbibliothek. Das wird sich so schnell nicht ändern. Angekommen im Leben einer Parlamentarierin - wie immer das aussehen soll - bin ich noch nicht. Warum sollte ich mich plötzlich anders verhalten? Dieses Bashing, das immer daherkommt und das sicher auch in den Postings unter diesem Interview kommen wird, weil ich noch keinen Abschluss habe, finde ich unnötig. Ein Studienabschluss heißt gar nichts. Es gibt viele Leute, die sind völlig unkritisch durch ein Studium gegangen, und andere, die mehrere Studien begonnen haben, haben einen viel weiteren Horizont. Ich will mich weiter mit wissenschaftlichen Fragen auseinandersetzen und sicher auch einen Master machen. Die Gefahr, die droht, wenn man in diesem Apparat Parlament ist, ist, dass die großen Fragen außer Sicht geraten. Wir werden sehen, was ich in einem Jahr dazu sage, aber das ist zumindest mein Anspruch. (Julia Grillmayr und Tanja Traxler, DER STANDARD, 21.11.2013)