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Hamburger Intendantin in Nöten: Karin Beier. 

Foto: APA/Brandt

Manchmal hat sogar die Tante Jolesch unrecht. Die Not ist zwar groß am Hamburger Schauspielhaus, der klugen Tante Stoßgebet, der Himmel bewahre uns vor allem, was noch ein Glück ist, wirkt dennoch fehl am Platz. Es ist nämlich tatsächlich noch ein Glück, dass die Uraufführung von Martin Crimps Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino wegen Umbauverzögerungen im Theater frühzeitig in ein Filmstudio ausgelagert werden musste.

Nachdem die monumentale Inauguration von Karin Beiers Intendanz, ein mindestens siebenstündiger Antikenmarathon (u. a. mit Joachim Meyerhoff), wegen eines schweren Bühnenschadens von Mitte November auf Mitte Jänner hatte verschoben werden müssen, avancierte die planmäßige zweite Produktion zur außerplanmäßigen Eröffnungspremiere. Nur eben nicht im Großen Haus, sondern weit draußen auf dem Gelände des Studios Hamburg. Die als Wundertäterin herbeigesehnte Theatermacherin, die das Schauspielhaus von den Toten auferwecken soll und muss, betritt die Stadt notgedrungen durch einen Nebeneingang.

Ort der Handlung: "Im Innern eines großen verfallenden Hauses". Farbe blättert von den Wänden, Putz rieselt von der Decke, im Treppenhaus wuchert ein grüner Strauch. Türen öffnen und schließen sich wie von Geisterhand bewegt. Ein Stuhl wandert, als würde man gleich Zeuge einer spiritistischen Séance. Die Hausherrschaften tragen fremd-vertraute Namen: Iokaste, Antigone, Polyneikes, Eteokles, Kreon, Teiresias. Sie scheinen eher Insassen als Bewohner zu sein. Es ist das Haus des Ödipus. Es ist ein Geisterhaus.

Diese Assoziation ist seit Doktor Freuds Zeiten kein Geistesblitz mehr. Und das englische Stück, das hier (auf Deutsch) uraufgeführt wird, kommt auch gar nicht selbst darauf. Nach den Phönizierinnen des Euripides meint hier: Der Autor Martin Crimp folgt dem alten Meister Schritt für Schritt und bleibt dabei hübsch brav in der Spur. Aber in heutigem Schuhwerk.

Grundlegender Mythos

Er übermalt sehr werkgetreu ein Stück, das um 410 v. Chr. einen grundlegenden und folgenreichen Mythos abendländischer Kultur rekapitulierte: von Kadmos zu Laios zu Iokaste zu Ödipus zu Antigone. Nur den Begriff Ödipuskomplex kannte es noch nicht.

Katie Mitchell kennt ihn. Die britische Regisseurin denkt bei Ödipus vor allem an Freuds Bemühen, des Menschen Wahn systematisch zu zergliedern und wissenschaftlich zu kartieren. Das mythische Personal nimmt sie als Probanden in Dienst für eine Versuchsanordnung, die von der Fragestellung ausgeht: "Wenn der Mensch die Antwort ist, was ist dann die Frage?" Es ist das Rätsel der Sphinx, das Ödipus fatalerweise zu lösen verstand. Aber was will die Sphinx eigentlich mit ihrem Rätsel?

Der inszenatorische Aufwand, der Sphinx auf die Schliche zu kommen, ist beträchtlich. Die Aufführung beeindruckt durch ihre Präzision, ihre ästhetische Geschlossenheit und ihr zum Teil atemberaubendes Tempo. Der Chor der phönizischen Mädchen wird bei Mitchell zum Dutzend herb-energischer junger Damen, die in rasant choreografiertem Teamwork den Versuch in Gang setzen, vorantreiben, kommentieren, evaluieren. Ihr Kontrollaufwand ist gewaltig. Immer wieder schrillt, blinkt die Alarmanlage, werden Notausgänge verriegelt.

Wer sich weigert, seinen Part zu spielen, wird unsanft zur Räson gebracht: die zarte Antigone, eine hysterische Virtuosin der Schnappatmung, nicht anders als der Zyniker Kreon, der aus dem Fenster springt, als er seinen Sohn opfern soll, und flugs wieder eingefangen wird. Schließlich beenden sie das Experiment ohne jedes Ergebnis. In der Hand haben sie außer etwas Staub bloß die Frage, die sie schon am Anfang stellten: Was will die Sphinx?

Dann zeigen sie uns noch einen Ausschnitt aus Pier Paolo Pasolinis Ödipus-Film. Die madonnenselig lächelnde Silvana Mangano hält zu den ersten Takten von Wolfgang Amadé Mozarts Dissonanzenquartett den neugeborenen Ödipus im Arm. Alles Weitere kennen wir nicht nur aus dem Kino. (Oswald Demattia aus Hamburg, DER STANDARD, 27.11.2013)