"Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, sich gegen das System aufzulehnen. Man muss versuchen, sich so weit es geht abzukoppeln." - Jugendforscher Bernhard Heinzelmaier.

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derStandard.at: Herr Heinzlmaier, was sagen Sie zur aktuellen Pisa-Studie?

Bernhard Heinzlmaier: Ich bin absoluter Pisa-Gegner und halte die Studie für ziemlich große Idiotie. Sie ist darauf reduziert, nur die technische Intelligenz zu messen. Es entsteht ein einseitiger Mensch, der nur mehr rechnen soll, physikalische Gesetze in der Wirklichkeit erkennen und vernünftig lesen können. Das hat mit Bildung nichts mehr zu tun. Bildung würde für mich beinhalten, Traditionen zu verstehen, klassische Musik hören und verstehen zu können, Bücher zu lesen und sich mit Philosophie zu beschäftigen sowie bildnerische und kreative Tätigkeiten. Der Mensch, der sich nur mehr Kompetenz aneignet und keinen Zugang zur Kultur hat, ist in Wirklichkeit ein Mensch, der nur technisch funktioniert und notwendigerweise ein Sinndefizit haben muss.

derStandard.at: Ist das die Diagnose, die Sie über die heutige Jugend stellen?

Heinzlmaier: Ich finde die heutige Jugend bedauerlich und arm, weil sie einfach von der Gesellschaft zugerichtet wird. Der Jugend selbst ist kein Vorwurf zu machen, sondern den Bildungspolitikern, den Ökonomen der Wirtschaft, der Gewerkschaft. Alle, die an diesem Gesellschaftskonzept mitwirken, sind schuld daran, dass wir eine desolate, deformierte und angepasste Jugend haben.

derStandard.at: Was macht eine Gesellschaft voller Leistungsdruck aus Kindern?

Heinzlmaier: Das wird erbärmlich werden. Im Ernst, was man heutzutage vielleicht noch da und dort infrage stellt, wird die nächste Generation für ganz natürlich und ohne Alternative halten. Sie werden sich überhaupt keine Gedanken darüber machen, dass sie angepasst sind, sondern werden es als ganz natürlich empfinden und mitmachen und werden auch nicht mehr zur moralischen Reflexion fähig sein, außer es passiert irgendetwas Fürchterliches.

derStandard.at: Unsere Kinder werden also nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können? Das ist eine düstere Prognose.

Heinzlmaier: Genau. Den Vorwurf mache ich aber nicht der Jugend. Die ist ja gesellschaftlich geprägt, das ist keine Denkweise oder Existenzweise, die von der Jugend in die Gesellschaft gebracht, sondern von der Gesellschaft und der Politik in die Köpfe der Leute verpflanzt wurde. Das Problem heute ist, dass nicht mehr zwischen Gut und Böse unterschieden wird, sondern nur mehr zwischen Gewinn und Verlust.

derStandard.at: Ihr aktuelles Buch handelt von der "Generation Ego", die angeblich nur an sich denkt und sich nicht für die Gemeinschaft engagiert. Dabei sind 45 Prozent der Jugendlichen ehrenamtlich tätig. Wie passt das zusammen?

Heinzlmaier: Das machen Jugendliche, weil es gut in die Biografie passt. Die Organisationen sagen das ja selbst: Wer beim Roten Kreuz mitfährt, hat im Bewerbungsverfahren einen Vorteil. Weil er dadurch signalisiert, dass er soziale Kompetenz hat. Da steckt Kalkül dahinter. Ich will nicht sagen, dass es nicht zehn Prozent gibt, die so etwas machen, weil sie ehrlich überzeugt sind. Aber die meisten machen das, weil es ihnen für ihre Karriere etwas bringt. Image-Building. Sonst gar nichts.

derStandard.at: Das klingt nach Zombies, die manipulierbar und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und sich nehmen, was sie brauchen.

Heinzlmaier: Das sind auch Zombies. Wenn man zum Beispiel durch Lech geht, das ist ein nie enden wollender Zug von Konsumzombies. Die schauen auch alle irgendwie gleich aus, haben dieselben Anoraks mit diesen pelzbesetzten Kragerln an, stehen dann an den Bars herum mit ihren Champagnergläsern. Das sind unsere Eliten, und das sind Zombies. Die haben nichts anderes im Kopf als Genuss, und wenn sie dann am Abend in ihre schönen Hotelzimmer gehen, haben sie Depressionen und nehmen Antidepressiva.

derStandard.at: Sie sagen das über eine ganze Generation. Sie sagen, die heutige Jugend ist die Ego-Generation.

Heinzlmaier: Es gibt in dieser Generation mehr und weniger egozentrische Milieus. Ohne einen Schuss Egoismus kann der Mensch sowieso nicht überleben. Und dann gibt es verschiedene Abstufungen. Es gibt die Performer, das sind die aufstiegsorientierten, zukünftigen Eliten, die sind total egozentrisch. Aber es gibt auch die Postmaterialisten, die Ideale haben und gegen vieles ankämpfen, die Grünen wählen und sich über ökologische Dinge oder die Dritte Welt den Kopf zerbrechen, die Fair-Trade-Produkte kaufen. Das Problem ist, dass die immer weniger werden und die Egozentriker immer mehr. Deswegen spreche ich von der Ego-Generation - um das zuzuspitzen. Aber das heißt nicht, dass es keine Menschen mehr gibt, die das System infrage stellen.

derStandard.at: Warum fällt Ihr Urteil über die Gesellschaft so pessimistisch aus?

Heinzlmaier: Ich habe irrsinnig viele Daten vorliegen, die mich nicht gerade glücklich machen. Die Menschen sind sehr anpassungsorientiert, sie sind egozentrisch. Die traditionellen Gemeinschaften zerbrechen. Man muss sich nur ansehen, dass 50 Prozent der Ehen im urbanen Raum geschieden werden. Es ist alles ein wenig im Zerfall. Die Kindheit wird immer früher institutionalisiert, es gibt eine riesige ökonomische Krise, in der die Kosten auf die Bevölkerung abgewälzt werden und die Banken sich auf Kosten der armen Leute sanieren. Da kann man schon dazu neigen, ein bisschen pessimistisch zu sein.

derStandard.at: Wie können wir dem Leistungsdruck entgehen, damit es uns besser geht?

Heinzlmaier: Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, sich gegen das System aufzulehnen. Man muss versuchen, sich so weit es geht abzukoppeln. Man muss sich eigene autonome Zonen schaffen, wo andere Gesetze herrschen. Vielleicht kann man mit Gleichgesinnten irgendwelche kollektiven Wohnformen finden, wo Kinder anders aufwachsen als in diesem Konsumwahnsinn. Man muss versuchen, gemeinsam mit anderen in einem überschaubaren sozialen Raum Alternativen zu finden.

derStandard.at: Soll man nicht mehr versuchen, etwas zu verändern?

Heinzlmaier: Ich sehe momentan keinen Ansatzpunkt. Man kann zu den Grünen gehen, aber die sind auch schon eher angepasst. Ich glaube, dass das heutige Wirtschaftssystem übermächtig ist. Wie es sich jetzt darstellt, ist es sinnlos, dagegen anzurennen.

derStandard.at: Das verwundert. Sie sagen doch immer - zumindest werden Sie so zitiert - dass die Jugend rebellisch sein und sich auflehnen soll.

Heinzlmaier: Aber Rebellion ist es auch schon, in alternativen Projekten zu leben. Da wird eh schon mit Fingern auf dich gezeigt, wenn du das machst. Es steht ja schon jeder da wie ein Idiot, wenn er die Mariahilfer Straße in eine Fußgängerzone verwandelt. Da glaubt man, es geht um den Untergang des Abendlandes. Rebellion fängt im Kopf an. Man muss erst einmal über die Grenzen dieses Systems hinaus denken, dann kann man etwas Alternatives initiieren. Es wäre für mich schon genügend Rebellion, wenn es in Lech ein paar alternative Wohnformen geben würde. Aber so ist es ein Zombiedorf. (Katrin Nussmayr, Johanna Schwarz, 6.12.2013)