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Klaus Maria Brandauer in der Rolle eines Königs, der sein Land herschenkt und darüber den Verstand verliert. Lears Töchter spielen Corinna Kirchhoff, Dorothee Hartinger, Pauline Knof.

Foto: APA/Zangrando

Wien - Ein greiser König vermacht sein Reich aus einer vermeintlichen Laune heraus seinen drei Töchtern. Die Folgen seiner Entscheidung stürzen ihn in den Wahnsinn, Reich und Königshaus kollabieren. Shakespeares neben Macbeth finsterste Tragödie aus 1606 hat am Samstag (18 Uhr) Premiere im Wiener Burgtheater. Klaus Maria Brandauer spielt in der Regie von Burgdebütant Peter Stein den Titelhelden.

STANDARD: Ist "König Lear" wirklich ein so trostlos finsteres Stück, wie immer behauptet wird?

Brandauer: Shakespeare hat das nicht unabsichtlich weit in die Vergangenheit zurückdatiert. Die Zeitgenossen sollten nicht den Eindruck gewinnen, es werde ihnen am Zeug geflickt.

STANDARD: Der englische König Jakob sagte sinngemäß: ein furchtbares Stück. Aber es gebe ja Gott sei Dank die christliche Erlösung.

Brandauer: Weil er gerade seine anglikanische Staatskirche mitgegründet hatte. Aber natürlich: In dem Moment, wo man einen "Ismus" hat, einen Glauben oder einen Bienenzüchterverein, kann man sich dahinter wunderbar verstecken. Wenn man allein dasteht, ist es schwierig. Ich will für den Mann Lear eine Lanze brechen. Er hat ein Reich aufgebaut. Sein Land war nicht gleich England, sondern er hat da und dort etwas hinzugefügt. Das ging nur über Kriege. Darauf ist er nicht unerheblich stolz. Lear ist ein "Winner", ein Sieger, mit einem Wort: ein König.

STANDARD: Das geht nicht ohne Deformationen ab?

Brandauer: Er ging natürlich über Leichen. Jeder Krieg braucht das. Lear bleibt aber als Urheber der Gewalt kenntlich. Man rechnet ihm das anders an, als wenn man heute hört, in Bagdad sind schon wieder Bomben explodiert. Nun muss er zur Kenntnis nehmen, dass er alt wird.

STANDARD: Shakespeare ist präzise: achtzig ...

Brandauer: "... und drüber keine Stunde mehr, noch weniger." Es gibt in diesem Stück am laufenden Band Sätze von dieser Qualität. Manchmal hängen sie auch gar nicht miteinander zusammen, es sei denn, man bekommt ein Gefühl für die ganze Geschichte. Es ist, wie wenn man 1944 ein Wort sagte, das nächste 2013, wieder ein anderes 1957. Das Stück bildet einen Fleckerlteppich, von dem man etwas ablesen kann.

STANDARD: Besteht Lears Problem nicht in der Weigerung, seine Töchter als Vater anzusprechen? Er vermengt die Sprache des Herrschers mit der des Erzeugers.

Brandauer: Jeder, der lange Potentat ist, vermischt das. Selbst in einer Demokratie: Kaum ist jemand zum dritten Mal wiedergewählt, haben wir zwar keinen Lear, aber einen demokratisch gesalbten Politiker vor uns. Es fällt schwer, diese Ebenen auseinanderzuhalten. Man muss schon weise sein, etwas lernen wollen, gut erzogen sein im Sinne der Herzensbildung, um dafür nicht anfällig zu werden. Ich lege da meine Hand auch für mich nicht ins Feuer. Am Anfang meines Lebens habe ich geglaubt, so, wie es passiert, gehört es sich. Das sei ganz logisch, dass ich als Schauspieler Karriere mache. In einem solchen Augenblick ist man nicht mehr immun gegen sich selbst. Es ist ohnehin schwer, gegen sich immun zu bleiben. Ich wünsche mir das und bilde mir ein, es gelegentlich zu sein. Der Lear ist das Trampolin für solche Reflexionen.

STANDARD: Ist "König Lear" nicht wie der Kommentar zu einem Satz des Philosophen Wittgenstein: Das Auge kann sich selbst nicht sehen? Lear beginnt als Verblendeter, und es braucht furchtbare Katastrophen, um ihn sehend zu machen.

Brandauer: Das Auge ist wahnsinnig wichtig. "Was, es braucht ein Auge, um zu sehen? Schau mit dem Ohr!" Diesen Satz spricht Lear aus. Und vielleicht ist es so sogar besser.

STANDARD: Vielleicht meint das nur ein gesundes Maß an Selbstreflexion: Erkenne dich selbst und dein Handeln.

Brandauer: Die Erfolgreichen und die Gesunden besitzen diese Selbsterkenntnis meist gar nicht. Sie brauchen die Schläge des Sturms, die Lear auf der Heide erleidet. "Bin ich schuld? Was habe ich getan?" Ein jeder schaue bei sich selbst nach. So sollte man auch die ganze Veranstaltung von Shakespeare nehmen.

STANDARD: Als Anleitung zur Selbstreflexion?

Brandauer: Wenn wir es hinkriegen, dass man das Stück versteht. Nicht, dass die Leute aus dem Theater hinausgehen und sagen: Es geht mir wie Goethe oder Tolstoi ...

STANDARD: Die den "König Lear" vehement ablehnten.

Brandauer: Genauso wie Shakespeare-Forscher Jan Kott, der sinngemäß meinte: Warum sollen wir uns mit diesem naiven, dummen Kerl abgeben?

STANDARD: Sie ergreifen für Lear und seine Verblendung Partei?

Brandauer: Ich muss. Ich habe aufzutreten. Ich bin der Verwalter dieser Sache. Wenn ich das nicht täte, wäre ich fehl am Platz. Ich kann keine Brecht'sche Form benützen. Sie können eine Figur zeigen, indem Sie sie kritisieren. Ich möchte das in diesem Fall nicht tun, sondern ich möchte um sie werben. Das heißt: Ich möchte nicht so einen Vater haben. Lear ist wirklich schrecklich, aber er ist nicht böse. Er ist in fortgeschrittenem Alter sogar kindlich.

STANDARD: Leider schimpft er in einem fort.

Brandauer: Lear war ein Stammeshäuptling, der König wurde. Gehen Sie nach Italien auf die Straße, wenn ein Auto leicht blessiert wird. Es geht los, und Sie glauben, die werden sich im nächsten Augenblick erschießen. Alles eine Frage der Streitkultur. Es gibt Gewitter, die gleich verebben. Sie verebben bei ihm nur nicht mehr, weil: Es ist wirklich ein Kreuz in einer solchen Zeit, drei Töchter zu haben. Und es kann nicht eine Tochter das Land führen, sondern es muss ein Mann sein.

STANDARD: Ihr Fazit?

Brandauer: Manche bezeichnen das Stück als eine Parabel, ein Gleichnis. Ich habe diese Bezeichnungen beiseitegelassen. Ich mache etwas für Lear. Ich lerne mit ihm und durch ihn, und in der Spiegelung nach außen gibt man etwas mit. Es ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern. "Der ist ja nackt!" Das ist er. Aber dieser Striptease ist wesentlich. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 18.12.2013)