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In der Gentzgassen-Wohnung der "Auersbergerischen", hier nun in Graz: Verena Lercher (im Portal) als Bernhard-Figur.

Foto: APA/LUPI SPUMA / SCHAUSPIELHAUS

Graz - Der berühmteste Ohrensessel der Welt steht, im Vorzimmer seitlich versteckt, im Grazer Schauspielhaus. Er stammt aus Thomas Bernhards Skandalroman Holzfällen. 1984 erschienen, wurde das Buch einst Gegenstand einer einstweiligen Verfügung. Suhrkamp durfte Holzfällen in Österreich nicht ausliefern. Das Künstlerehepaar Lampersberg sah sich von Bernhard unschön wiedergegeben. Der moralische Stachel saß tief. Bernhard war als junger Möchtegerndichter von dem Paar Lampersberg gefördert worden. Zur "Belohnung" gab Bernhard die beiden viele Jahre später dem öffentlichen Hohngelächter preis. Dankbarkeit, so durfte man als Bernhard-Adept lernen, ist in Kunstdingen keine Kategorie.

Moralische Erwägungen spielen 25 Jahre nach Bernhards Tod kaum mehr eine Rolle. Der polnische Regisseur Krystian Lupa trinkt Bernhards Sprachfluss wie köstliches Bergwasser. Wir erinnern uns: Der Erzähler (Johannes Silberschneider) rekapituliert "auf seinem Ohrensessel" in der Wiener Gentzgasse, wie er die "Auersbergerischen" in der Innenstadt getroffen hat. Die Tanzkünstlerin Joana (Verena Lercher), eine gemeinsame Bekannte, hat sich in ihrem Heimatort Kilb erhängt. Der Erzähler beschließt den Begräbnistag wider Willen bei Auersbergs. Dorthin soll kurz nach Mitternacht ein Burgtheater-Star kommen, um gemeinsam mit der Künstlergesellschaft einen Plattensee-Fogosch zu verspeisen.

Lebende und Tote

Das "künstlerische Abendessen" bildet den Rahmen für die Existenzabrechnung des Erzählers. In Graz hat Lupa (Ausstattung) eine Wohnstatt des Weltgeistes errichtet. Hohe Marmorbahnen flankieren eine Atelierglaswand. Während "Thomas" seine Verwünschungen im Ohrensessel murmelt, erstickt die Gesellschaft hinter Glas. Maja Auersberg (Steffi Krautz) heuchelt am Telefon ihr flüchtiges Bedauern über Joanas Tod. Ihr Künstlergemahl mit der Silbermähne (Franz Xaver Zach) trinkt sich als "Komponist in der Webern-Nachfolge" einen soliden Vollrausch an. Dichterinnen mit Insektensonnenbrillen (Barbara de Koy) sinken in schwere Clubledersessel.

Bei Bernhard ist jede Figurenskizze ein Treffer. Die Dichterin Billroth? Ist in Wahrheit Jeannie Ebner. Ihre Kollegin Schreker? Ist die Mayröcker. Der Künstler "Rehmden"? Ist der Maler Lehmden, und so weiter. Bei Lupa kommt man mit heiterem Figurenraten nicht weiter. Seine Bühnenadaption des Romans Holzfällen ist ein Hochamt. Das Credo seiner Inszenierung tönt kunstreligiös. Lupa, der in Polen häufig Bernhard für die Bühne adaptiert hat, fühlt tiefer. Bernhards kindliche Entblößung schlecht gealterter Wohltäter interessiert ihn nicht. Lupa lässt das Portal in rotem Licht erglühen.

Seine Inszenierung spürt dem Geheimnis der Wandlung nach. Eine Gruppe Menschen beschließt, für die Kunstausübung zu leben. Am Ende sind diejenigen, die gestorben sind, besser dran. Krautz, die erloschene, ans Klavier gelehnte Sängerin als betuliche Gastgeberin, weiß: "Die Zeit läuft unerbittlich!" In Graz ist die Zeit aus den Fugen. Das Treffen der Künstler ist ein Gespensterball.

In der Gentzgassen-Wohnung herrscht ein unermüdliches Kommen und Gehen. Auf einem Videoschirm werden Begräbnis und Leichenschmaus in aller Ausführlichkeit dokumentiert. Die tote Joana (Lercher) mischt sich im Sommerkleid unter die Lebenden.

Der Erzähler spürt seine Machtlosigkeit. Seine Tiraden, ins Mikro gewispert, weiten sich zur rasenden Anklage. Springt Silberschneider aus seinem Ohrensessel hoch, nimmt er die ganze Welt ins Gebet. Ein herrlicher Mime, in dessen Blick das Unglück einer Molière-Figur flackert.

Nach der Pause - im Publikum macht sich Unmut über die Ausführlichkeit breit - wird die Tafel zum letzten Abendmahl gedeckt. Der kahlköpfige Burg-Mime (Stefan Suske) sitzt inmitten seiner Jünger und bläht sich als Ibsen-"Ekdal". Nur Judas (Silberschneider) stört von rechts. Die Erzählung dieser zauberhaften Aufführung bricht sich an den (projizierten) Wipfeln des Hochwaldes. Ravels Boléro scheppert. Nach vier Stunden sind alle selig ermattet. Alles ist, wie immer bei Bernhard, sinnlos. Am sinnlosesten tönt die Bitte der Auersberg an den letzten Gast: "Thomas, schreibe nicht darüber!" Denkste. Großer Applaus. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 13.1.2014)