In der umgestürzten Wirklichkeit gehen die Figuren buchstäblich baden: "Germinal" vom belgisch-französischen Künstlerduo Antoine Defoort und Halory Goerger.

Foto: Bernhard Müller

Salzburg - Drei Männer und eine Frau sitzen in einem Paralleluniversum fest. Ihre Wirklichkeit erscheint grotesk verschoben. Und trotzdem wirkt sie unheimlich vertraut. Hier setzt Germinal an, mit dem die zweite Ausgabe des Tanz-Performance-Festivals Pneu eröffnet wurde, das die Szene Salzburg noch bis Samstag präsentiert.

Verantwortlich für diese außergewöhnliche Performance zeichnet das junge, belgisch-französische Künstlerduo Antoine Defoort und Halory Goerger, das sein Publikum bereits vor zwei Jahren bei Pneu Nummer eins mit Witz und Intelligenz begeisterte. Mittlerweile haben die beiden die Aufmerksamkeit internationaler Veranstalter erregt und konnten ihre Arbeit bis hin zum Festival d'Avignon zeigen.

Der Germinal war der siebente Monat im Kalender der Französischen Revolution. Das ist auch schon einer der Schlüssel zu Germinal, das keineswegs eine Geschichtsstunde ist. Die Revolution wird gar nicht erwähnt. Es gibt keinen Aufstand. Aber es gibt eine umgestürzte Wirklichkeit.

Erst können sich die vier Charaktere in Germinal nur über Geräte verständigen, mit denen sich Textprojektionen herstellen lassen. Ihr Verhalten lässt vermuten, dass sie unserer westlichen Welt entstammen, dies aber vergessen haben. Aus dieser Amnesie heraus bauen sie sich eine neue Welt. Intuitiv scheinen sie zu wissen, welche Mittel dafür zur Verfügung stehen. Sie verhandeln über den Gebrauch ihrer Möglichkeiten und erobern sich neue - indem sie ihre Kommunikation Schritt für Schritt erweitern.

Dafür muss die Frau schon einmal den Bühnenboden mit der Spitzhacke aufreißen. Aus dem so entstandenen Loch holt sie ein Mikrofon. Um ihre Wirklichkeit neu zu ordnen, erfinden die Vier ihre ganz eigenen Methoden der Systematisierung von Begriffen - also des Begreifens. Sie finden zur gesprochenen Sprache; und sie werden von immer neuen Kommunikationstechniken erfasst. Bis hin zum Computer.

Der eröffnet ihnen den Blick in eine verblüffende Welt mit Himmel, Hügeln, einem Berg, einem Wald. Aber der Kontakt zu dieser Wirklichkeit klappt nicht, und die Vier gehen buchstäblich baden.

Das ist angenehm, es lässt sie in ihrem Paralleluniversum bleiben, das in Germinal als Metapher für die uns so nahe und doch so fremde Welt der Kommunikation steht.

Faszinierend spielerisch bringen Antoine Defoort und Halory Goerger auf die Bühne, was sonst nur mit komplizierter Theorie zu beschreiben ist: Warum wir, ohne es zu bemerken, Gefangene dessen sind, womit wir uns verständigen. Ein blendendes Stück. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 15.1.2014)