Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit familylab Österreich.

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Die  Mahlzeit, die wir aus den Lebensmitteln, die wir kaufen, kochen und in der Familie essen, ist vielleicht das stärkste Symbol der Liebe in unserer Kultur. Ob wir nun essen, um zu leben, oder leben, um zu essen, hängt ganz von der Stimmung, vom Ton und der Atmosphäre rund um die Mahlzeit und währenddessen ab. So wird es in unserem Gedächtnis gespeichert. Genau deshalb ist es ein großer Wunsch vieler Eltern von kleinen Kindern, dass die Mahlzeiten hinsichtlich ihrer ganzheitlichen Qualität erfolgreich verlaufen.

Die ideale Mahlzeit beginnt bereits beim Einkaufen und setzt sich in der Zubereitung fort, bis hin zum gedeckten Tisch. Der Höhepunkt ist das Genießen des Essens selbst. Dabei geht es ebenso um Gedanken und Gefühle wie um die Sorgfalt und Freude am Geben, am Teilen und Zusammensein. Nicht alle Mahlzeiten können optimal sein, es reichen schon wenige. Das Wichtigste dabei ist, dass wir unsere Erwartungen mit unserem Aufwand in Einklang bringen. Je mehr Zeit wir zum Planen, Einkaufen und Kochen haben, desto mehr bekommen wir in Form von guter Laune zurück. Auch wenn es manchmal eine Tiefkühlpizza sein muss, mit dem Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt – so wird die Liebe auch überleben.

Düfte und Gefühle

Traditionen und Kultur in der Familie sind auf Grundlage der Erinnerungen aufgebaut, die auch Erwachsene in ihre eigene wachsende Familie mitbringen. Junge, frischverliebte Paare haben Freude am Kochen jeder Mahlzeit und der dabei entstehenden Intimität, die das erste Element eines Hauses ist, das langsam durch Besuche von guten Freunden und der Familie ergänzt wird. Nicht selten wird eine dieser Mahlzeiten der Auftakt für die Konzeption des ersten Kindes sein. Plötzlich bekommt das Essen für die schwangere Frau einen sehr konkreten Sinn als Ausdruck ihrer Liebe und Sorge für das ungeborene Kind.

Ob die Mutter nun ihr Kind stillen kann oder es mit dem Fläschchen gefüttert wird, sie braucht viele Mahlzeiten über den Tag verteilt, damit sie spürt, eine gute Mutter zu sein. Ein Vater muss in der ersten Zeit akzeptieren, sich vielleicht ein wenig überflüssig zu fühlen, aber er hat die Möglichkeit, die Mahlzeiten für das Paar vorzubereiten. So hilft er zu verhindern, dass plötzlich die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder Oberhand gewinnen.

Bei einer Mahlzeit geht es dem Kind nicht nur um die Intimität mit der Mutter, es geht auch darum zu essen. Dabei erfasst es auch die Geräusche aus der Küche, die Atmosphäre zwischen den Eltern. Selbst wenn das Kind satt und schläfrig ist, atmet es die Düfte ein und assimiliert die Gefühle zwischen den Erwachsenen. Wenn die Stimmung dabei gut und liebevoll ist, kann sich das Kind entspannen. Herrscht Disharmonie, so wird es unruhig. Beide Erfahrungen sind Teil des Lebens einer Familie. Es besteht nicht die Notwenigkeit, einen formal korrekten Ton neu zu erfinden oder Harmonie vorzutäuschen. Eine gute Mahlzeit spiegelt immer die echten Gefühl der Familienmitglieder füreinander wider – hier und jetzt.

Wohlbefinden

Die nächsten 15 vielfach sicher auch turbulenten Jahre hindurch setzt die gemeinsame Mahlzeit Zeichen – oft sind es Leerzeichen. Die Häufigkeit ist von der Arbeit der Erwachsenen abhängig, den Kindern in der Schule, den Hobbys ... Aus Erfahrung wissen wir, dass mindestens zwei bis drei gemeinsame Mahlzeiten pro Woche, die zwei oder mehrere Familienmitglieder gemeinsam haben und in die Sorgfalt und Liebe investiert wurde, zum Wohlbefinden aller beitragen.

Da die Mahlzeit auch ein Symbol der Liebe ist, ergibt sich daraus eine ebensolche Komplexität. Wie es Elemente gibt, die notwendig sind, um eine unvergessliche Mahlzeit entstehen zu lassen, so gibt es auch Elemente, die sie zerstören – wie Oberflächlichkeit, Hast und mangelndes Engagement.

Geschwister müssen sich täglich neu ausrichten und ihre Hierachie wiederherstellen. Je mehr Zeit sie in getrennten Institutionen verbringen, desto mehr dieser Konflikte müssen sich dann um den Tisch abspielen. Es kann irritierend sein, aber es entspannt die Erwachsenen, wenn sie es so annehmen. Es braucht viele andere Situationen für eine kompetente Führung, die bereit ist zu akzeptieren, dass die Familie ist, wie sie ist, und nicht immer den Träumen und Erwartungen der Erwachsenen entspricht.

Esskultur

Esskultur ist die Kombination aus Hingabe, Lust und guten Produkten. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie gehen an den ersten duftenden und saftigen Äpfeln vorbei, Sie kaufen zwei Kilogramm und geben sie zu Hause in eine Schüssel. Bald wird sich Ihre Wohnung mit dem Geruch der Süße und Säure füllen. Wenn Sie die Äpfel in Scheiben schneiden und genussvoll zubereiten, so freuen Sie sich auf die Gesichter der anderen, wenn sie einen Bissen davon nehmen.

Ein Teil der Gemeinschaft

In wenigen Jahren haben die Kinder ihren Mittelpunkt des gesamten Lebens in der Familie erreicht - und vielleicht vor allem am Esstisch, wo engagierte und liebevolle Eltern dem Kind beim Essen zusehen. Sie fühlen sich so im Mittelpunkt, aber auch allein und einsam. Daher ist es während dieser Zeit wichtig, übermäßige Aufmerksamkeit zu vermeiden - ganz unabhängig davon, ob es sich beim elterlichen Verhalten um einen Wunsch nach Kontrolle oder nur um einen Ausdruck der reinen Liebe und Bewunderung handelt.

Kurz gesagt, es ist Zeit, die Kinder zu einem integralen Teil der Gemeinschaft werden zu lassen. Je mehr die Kinder im Mittelpunkt stehen, desto mehr verstärkt sich ihr weniger glückliches Verhalten. Die erste Übung dazu ist, mit den Kindern die Mahlzeit zu arrangieren, sich gemeinsam zu unterhalten. Das bedeutet nicht eine Rückkehr zu den alten Tagen, in denen Kinder wohl gesehen, aber nicht gehört werden sollten. Es bedeutet vielmehr, eine Atmosphäre zu gestalten, in der Kinder die Gemeinschaft beobachten und ihre Regeln verstehen lernen.

Erziehung

Erziehung kann jede Mahlzeit ruinieren! Bitte denken Sie daran, dass die Kinder zu 90 Prozent durch das erwachsene Verhalten erzogen werden und nicht durch das, was wir Erziehung nennen. Ein Baby von sieben Monaten lernt langsam, so zu essen wie die Erwachsenen – Kinder lieben es, Erwachsene zu kopieren. Mit etwa fünf Jahren ist ein Kind sozusagen ein Mahlzeit-Teilnehmer. Alle Arten von freundlicher Führung sind okay, aber Korrekturen, Kritik und Anweisungen zerstören die Stimmung und lähmen die Geschmacksnerven. Die Kinder werden also alles versuchen, wozu sie fähig sind, um nicht mit am Tisch der Erwachsenen sitzen zu müssen.

Tischmanieren

Auch hier sind die Vorbilder und Mentoren die Erwachsenen. Um ein glaubwürdiges Vorbild zu sein, schalten Sie den Fernseher, Handy und Laptop ab. So Sie einen Anfruf am Festnetz bekommen, können Sie später zurückrufen. Sagen Sie Kindern im Vorschulalter nicht, sie sollen sitzen bleiben, bis alle fertig gegessen haben. Aber lassen Sie sie sich oder andere vom Tisch nicht weglocken. Lassen Sie das Kind gehen – dann kommt es wieder. Es ist die Aufgabe des Erwachsenen, jene Atmosphäre am Tisch zu schaffen, von der sich die Kinder angezogen fühlen. (Jesper Juul, derStandard.at, 2.2.2014)

Im zweiten Teil: Atmosphäre, der Wunsch nach Gemeinschaft und Kinder, die nicht essen