Die Destruktion des Absurden ist konstruktiv" steht auf einem der Plakate der Demonstranten auf der Tito-Straße in Sarajevo. Mit dem "Absurden" ist die Verfassung von Dayton gemeint, die Bosnien-Herzegowina 1995 von der Internationalen Gemeinschaft aufgedrückt wurde. Das Erfrischende an den jetzigen Protesten ist, dass das bosnische System erstmals nicht mit ethno-nationalistischen Argumenten von Parteien angegriffen wird, sondern dass Bosnier (jeder Nationalität - auch in der Republika Srpska wurde demonstriert) ganz einfach nicht mehr so viel Geld für etwas ausgeben wollen, das ihnen nichts bringt. Die Bürger melden sich.

Bereits im Vorjahr waren sie mit der "Babyrevolution" erfolgreich: Ein gefordertes Gesetz kam unbosnisch schnell. Der Druck der Straße ist in dem südosteuropäischen Land das einzige Mittel, das ihnen bleibt. Denn bei Wahlen haben die Bosnier in Wahrheit keine Wahl: Die Verfassung ist so sehr am Ethno-Proporz orientiert - in jedem Amt und Amterl muss ein Vertreter der Serben, Bosniaken und Kroaten sitzen -, dass für tatsächliche Politik kein Platz bleibt. "Organisierte Unverantwortlichkeit" könnte man die Struktur nennen, in der auch wegen der Vetomöglichkeiten niemand in die Pflicht genommen werden kann.

Gleichzeitig verstärkt Dayton die Ethnisierung der Menschen, weil die ethnische Zugehörigkeit für alles entscheidend ist und der Machtkampf zwischen den drei Gruppen institutionalisiert wurde. Ein normaler politischer Wechsel ist nicht möglich. In diesem "kalten Frieden" haben die bosnischen Politiker nichts dazu beigetragen, das Land wirtschaftspolitisch weiterzubringen, die Gesetze wurden nicht an die EU-Legislatur angeglichen, es wurden nicht einmal Institutionen geschaffen, um die Ausfuhr von Produkten in das Neo-EU-Land Kroatien zu ermöglichen. Es gibt keine Wettbewerbsbehörden, und die Privatisierungen gingen so intransparent wie brutal vonstatten. Übrig geblieben sind ohnmächtige Bürger.

Allerdings richten sich deren Proteste in erster Linie nicht gegen Dayton, sondern gegen die Demütigungen des Alltags, dagegen, dass man sich nicht leisten kann, zum Zahnarzt zu gehen oder Gemüse zu kaufen, gegen die Schmiergeldforderungen in Spitälern und dagegen, dass es keine Jobs gibt - außer beim Staat, außer über die Parteien. Eine Verfassungsänderung sollte zudem gerade in Bosnien-Herzegowina mit Bedacht gemacht werden, weil sie große Ängste auslösen kann, was man in den vergangenen Jahren sehen konnte. Sie würde außerdem nicht die wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen, deretwegen die Bosnier nun auf die Straße gehen.

In der gesamten Region gibt es in den vergangenen Jahren keine nennenswerten Investitionen. Die wirtschaftliche und soziale Katastrophe sind Folgen des unbewältigten Strukturwandels. Nach dem Zerfall Jugoslawiens, das über einen eigenen Markt verfügte, setzte die Internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina ausschließlich auf Sicherheit, die wirtschaftliche Entwicklung wurde überhaupt nie in Angriff genommen. In dem Land, in das Milliarden an Hilfsgeldern geflossen sind, blieb der Aufbau von Infrastruktur aus. Die Autobahn ist heute ein paar Kilometer lang, der Zug nach Zagreb braucht neun Stunden. Der bosnische Frühling kann also nur zu einem bosnischen Sommer werden, wenn ernsthaft an einer wirtschaftlichen Strategie in der gesamten Region gearbeitet wird. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 10.2.2014)