Tauchgang in die Unterwelt der ewig hippen Coolness und deren neurotischer Verspanntheit: Barokthegreat im Brut.

Foto: Ilaria Scarpa

Wien - Mit der Verabreichung von Medikamenten, Ohrwürmern, Augenweiden und ordentlich Tamtam hat das Wiener Brut Theater am Wochenende sein jährliches Imagetanzfestival angestimmt. Da gibt es nun unter dem Motto "Fürsorge" mehr als zwei Wochen lang Performance, Musik und Choreografie zu erleben.

Richtig fürsorglich waren am Abend der Eröffnung vor allem das österreichische Künstlerpaar hoelb/hoeb - Barbara Hölbling und Mario Höber, diesmal zusammen mit David Jagerhofer - und Barbara Ungepflegt. Als Apotheker verkleidet, verabreichten hoelb/hoeb in der Brut Bar pharmazeutische Bomben wie Sedacoron und Sufenta: Sedacoron wird bei schweren Herzrhythmusstörungen gegeben, Sufenta ist als fast alles betäubendes Schmerzmittel in Gebrauch.

Nein, diese Gaben waren nicht echt. Dafür aber die ironische Anspielung auf Party- und Clubszenen, wo man sich gern allerlei "einschmeißt", damit das Feiern noch geiler und der Dumpfschädel danach noch leerer wird. Das passt zu der Wiener Performerin Barbara Ungepflegt, die immer wieder gegen das - politisch - Dumpfe antritt. Diesmal in ihrem Konditoreidrama Endlich im Souterrain des Café Mentone in der Kirchengasse. Darin glänzt bis 10. 3. die Schauspielerin Krista Schweiggl als vergessliche alte Dame, die durch eine "Seniorenklappe" ins Lokal geschoben wurde. Und Peter Ahorner mimt einen abgefeimten "Übernehmensberater", der im Bund mit der zwielichtigen Kellnerin Ungepfegt scharf auf die Wertsachen der Dame ist.

Endlich zeigt sich als eine sehr Wienerische, charmant giftige Satire mit markanten Nebenfiguren: eine Frau in Burka geistert umher, ein Dean-Martin-Imitator beschwört mit dem Song Welcome To My World die Vergangenheit, und ein in die Jahre gekommener Bärtiger hat den ersten Platz im "Ins-Verderben-Rennen" gewonnen. Die Alten sind Fremde: mehr oder weniger rüstige Migranten an der Schwelle zum Tod. "Rüstig?", protestiert Schweiggl im Duktus von Thomas Bernhard: "Ich rüste ab. Mein Leben, eine Abrüstung." Das kommt als heikles Thema in einer Gesellschaft, die das leistungskonforme Jungsein heute wie einen Kaugummi ausdehnt.

Rituale der Pop-Kultur

Dass das Jungsein jetzt gerade auch kein Spaziergang mehr ist, führte bei Imagetanz die junge Gruppe Barokthegreat aus Verona mit dem Trio Indigenous im Künstlerhaustheater vor. Zu den dunklen, trancehaften Rhythmen einer Drummerin (Leila Gharib) und den elektronischen Sounds von Francesco Fuzz Brasini bewegen sich drei kühle Grazien in repetitiven Mustern aus den Hüften heraus mit peitschenden Armen auf einer düsteren Disco-Bühne.

Ein wenig erinnert diese Arbeit an den norwegischen Waldtanz Night Tripper von Midgard Fiksdal, Ingvild Langgård und Signe Becker, den das Brut vor zwei Jahren im Rahmen von "Up to Nature" gezeigt hat. Die Veroneser Company ist da ganz auf der Höhe der Zeit, in der Trance-Tanz immer mehr zum Thema wird. Nicht nur im Rückgriff auf alte Mystiken wie die Norweger, sondern auch im Zugriff auf Rituale aus der Popkultur, wie ihn etwa schon François Chaignaud und Cecilia Bengolea gezeigt haben. Barokthegreat mischt beides zu einem Tauchgang in die Unterwelt der ewig hippen Coolness und deren neurotischen Verspanntheiten.

Die drei Frauen bei Indigenous entwickeln eine Kraft, mit der sie zwar nicht vom Fleck kommen, aber intensive Stimmungen schaffen können. Dieser rasende Stillstand, der dem Titel - zumindest in seiner Übersetzung mit "bodenständig" - eine sehr urbane Note gibt, wird bis zum Letzten ausgereizt. Der Tanz (Dafne Boggeri, Simona Rossi und Sonia Brunelli) ist beinahe schon virtuos, das Licht wird fabelhaft sinister gesetzt, und die Dramaturgie wirkt perfekt. Zusammen mit Dewey Dell und Alessandro Sciarroni kann Barokthegreat für sich verbuchen, dem italienischen zeitgenössischen Tanz einen neuen Platz in Europa zu verschaffen.

Den Reality Check zu dieser fiktiven Unterwelt lieferte am Eröffnungsabend Princessin Hans aus Berlin in ihrem punkgebrochenen Chanson-Konzert mit dem queeren Sänger Hans Kellett. Da machen sich die Performer ihre Begleitmusik zwar selber, aber die Frontperson hat die Pose, auf die es ankommt: Ein entzückend behaartes Männermonster im Sommerkleidchen, das die Sentimentalen im Publikum "Whitney" (mit)singen lässt, die Unsentimentalen "Britney" und die Queeren dazwischen "Shitney". Das ist ja auch eine Art von Fürsorge. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 10.3.2014)