Kreaturen wie dieses Exemplar des Gliederfüßers Marrella splendens bevölkerten vor mehr als 500 Millionen Jahren die Erde. 3000 gut erhaltene Fossilien konnten Paläontologen bergen.

Foto: Jean-Bernard Caron

Toronto - Der Marble Canyon im kanadischen Kootenay-Nationalpark ist ein echtes Naturparadies. Urwüchsige Nadelwälder umrahmen die in rund 2000 Metern Meereshöhe gelegene Schlucht. Menschen trifft man in diesem abgelegenen Winkel der Rocky Mountains nur selten, dafür um so mehr seltene Tier- und Pflanzenarten. "Es ist eine wunderschöne Landschaft", schwärmt der Wissenschafter Jean-Bernard Caron von der University of Toronto im Gespräch mit dem STANDARD.

Carons Interesse gilt allerdings weniger dem heutigen Ökosystem des Marble Canyon. Stattdessen erforscht der Paläontologe die Überreste von Kreaturen, die einst diese Region bevölkerten - vor etwa 505 Millionen Jahren. Mitten im Kambrium-Zeitalter. Von Bergen damals keine Spur. Das Gebiet war vom Ozean überspült und befand sich in äquatornahen Gefilden. Erst viel später führten Kontinentaldrift und Auffaltung zur jetzigen Situation.

Fossilienreichtum

Die Felsformationen im Marble Canyon bestehen hauptsächlich aus versteinerten Sedimentablagerungen, die sich während des Kambriums auf dem Meeresgrund bildeten. Was einige dieser Schichten auszeichnet, ist ihr Fossilienreichtum. Dieser war bis vor kurzem unbekannt. Jean-Bernard Caron hat die urzeitliche Schatzkammer zusammen mit Kollegen aus Kanada, den USA und Schweden im Rahmen einer großangelegten Suche entdeckt.

Die Forscher ahnten schon, was sie finden konnten. Die Schlucht liegt nur 42 Kilometer von der weltberühmten Burgess-Shale-Lagerstätte Walcott's Quarry entfernt. Aus dem dort befindlichen Schiefer wurden zehntausende Überreste von rund 200 verschiedenen kambrischen Tierarten und einige Algenspezies geborgen. Diese Fossilien bieten Einblick in eine der faszinierendsten Epochen der Evolutionsgeschichte: die kambrische Explosion.

Das Burgess-Shale-Gestein tritt auch an manchen anderen Stellen in der Region zutage. Deshalb nahmen Caron und sein Team mehrere Schluchten und Hänge gezielt unter die Lupe und wurden im Sommer 2012 fündig. "Wir hatten bereits seit 2008 in diesem Gebiet gesucht", berichtet Caron.

Die Experten erwarteten jedoch nicht, in genau diesen Schichten auf Fossilien zu stoßen, sondern eher in etwas älteren Ablagerungen. "Das war ein große Überraschung. Wir waren sehr aufgeregt." In einer einzigen zweiwöchigen Kampagne konnten die Paläontologen mehr als 3000 Fossilien ausgraben, darunter viele Überreste weichkörperiger Geschöpfe in einem außergewöhnlich guten Erhaltungszustand.

Herz, Leber, Nervengewebe

Zum ersten Mal sind bei Tieren aus dem Burgess Shale innere Organe wie Leber und Herz und sogar Nervengewebe erkennbar. Eine erste Studie über die Entdeckung wurde kürzlich vom Fachjournal Nature Communications veröffentlicht - derStandard.at berichtete. Vorher war strikte Geheimhaltung vereinbart worden. Die systematische Erkundung der Fundstelle im Marble Canyon ist für die nächsten Jahre vorgesehen. "Wir haben lediglich ein wenig an der Oberfläche gekratzt", sagt Jean-Bernard Caron. Die Lagerstätte, meint der Paläontologe, wird zweifelsohne noch erhebliches wissenschaftliches Aufsehen erregen. "Viele der Arten dort haben das Potenzial, unsere Sicht auf diverse Tiergruppen zu revolutionieren."

Möglicherweise kommt es auch zu neuen Erkenntnissen über die Ursachen und den Ablauf der kambrischen Explosion. Sie gilt gewissermaßen als Urknall der Entstehung der heutigen Artenvielfalt. Innerhalb von ungefähr 30 Millionen Jahren entwickelten sich Würmer, Mollusken, Gliederfüßer und sogar die Vorläufer der Wirbeltiere, zu denen bekanntlich auch wir Menschen gehören. Der Beginn einer ganz neuen Welt.

Die Fauna des Burgess Shale lebte anscheinend in Küstennähe. Ein Teil des damaligen Meeresgebiets war recht flach - die Tiefe betrug wahrscheinlich weniger als 50 Meter. Diese Plattform wurde durch ein Art Felsriff abgegrenzt, dahinter war es deutlich tiefer, vielleicht 150 bis 250 Meter, meint Jean-Bernard Caron. Das steile Gefälle war wohl der Grund für die außerordentlich gute Konservierung der Fossilien. Immer wieder kam es zu Unterwasserschlammlawinen, die allerlei Getier unter sich begruben und sauerstofffrei für die Nachwelt erhielten, quasi vakuumverpackt.

Die kambrische Explosion scheint jedoch zu dem Zeitpunkt schon am Abklingen gewesen zu sein. In einer aktuellen Studie haben die an der Entdeckung des Marble Canyon beteiligte Paläontologin Gabriela Mángano und ihr Kollege Luis Buatois, beide von der University of Saskatchewan im kanadischen Saskatoon, die Entwicklung sogenannter Spurenfossilien aus verschiedenen präkambrischen und kambrischen Schichten analysiert. Diese urzeitlichen Anzeichen tierischer Aktivität wie Grabgänge, Kriechspuren oder Bohrlöcher ermöglichen Experten Rückschlüsse auf die Lebensweise ihrer Urheber und sogar auf die Struktur ganzer Ökosysteme.

Drastische Veränderungen

Die Untersuchung von Mángano und Buatois zeigt einen deutlichen Veränderungsprozess auf. Zwischen dem Ediacara-Zeitalter, welches vor 541 Millionen Jahren zu Ende ging, und der zweiten Hälfte des Kambriums (circa 510 Millionen Jahre vor unserer Zeit) nahm die Vielfalt der Spurenfossilien drastisch zu. Zum ersten Mal entstanden im Meeresboden selbst komplexe Lebensgemeinschaften aus Würmern, Brachiopoden und anderen grabenden Organismen. Für die letzte Phase der Kambrium-Epoche ist jedoch keine weitere Zunahme der Diversität nachweisbar, wie die Forscher aktuell im Fachmagazin Proceedings of the Royal Society B schreiben. Die Blüteperiode hatte anscheinend ihren Höhepunkt erreicht.

Die Erschließung neuer ökologischer Nischen im Bodenbereich ging Hand in Hand mit Veränderungen in anderen marinen Ökosystemen, betont Gabriela Mángano. Eine Zunahme in der Planktonproduktion zum Beispiel förderte vermutlich die Entstehung filtrierender Bodenbewohner, während tief grabende Würmer Nährstoffe aus dem Sediment freisetzten und so wiederum das Algenwachstum ankurbelten. Die Evolution beschleunigte sich selbst, bis alle vorerst verfügbaren Nischen besetzt waren. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 19.3.2014)