Damatische und leichte Marguerite: Alina Cojocaru.

Foto: Holger Badekow

Wien - Noch ehe man es bemerkt, hat auf der Bühne das Stück schon begonnen. Eine dunkel gekleidete Frau steht da und blickt in den beleuchteten Zuschauerraum. Allmählich setzt hektisches Treiben ein, wenn Männer Tische aus dem Salon einer verstorbenen Dame wegtragen und Herren im Anzug und mit Zylinder Teppiche begutachten. Offensichtlich ist eine Möbelauktion im Gange. Wir sind im Prolog der Kameliendame, jenes Balletts, das John Neumeier 1978 für die Tänzerin Marcia Haydée nach dem Roman von Alexandre Dumas choreografiert hat.

Es geht um die Geschichte der lungenkranken Kurtisane Marguerite Gautier und ihres Liebhabers Armand Duval. Nach Marguerites Tod kommt Armand zur Auktion in den früheren Wohnraum, wo nur die Kammerzofe zurückblieb. Er denkt an der Verlauf der tragischen Affäre, und eine Folge von Erinnerungsbildern setzt ein. Neumeier bleibt in seinem Handlungsballett nahe am Roman und verarbeitet auch Szenen, die Verdi in der Oper La traviata nicht aufgriff. So schafft er ein Spiel im Spiel, indem er das Ballett Manon Lescaut mit dem Schicksal Marguerites und Armands verwebt.

Das Stück zur Klaviermusik Frédéric Chopins ist seit Jahren eines der erfolgreichsten des Hamburg Balletts. Heute ist es ein Klassiker, was dem Intendanten John Neumeier nicht viel bedeutet: "Ein Klassiker ist ein Stück, wenn es übertragbar ist auf verschiedene Ensembles. Ja, vielleicht ist es ein Klassiker, weil viele große Ballerinas die Rolle getanzt haben. Aber Tanz ist eine lebendige Kunst, und für mich ist nur gültig, was lebt und mich überzeugt", so Neumeier im Gespräch mit dem Standard.

Und Die Kameliendame überzeugt nach wie vor, was nicht zuletzt am famosen Können des Hamburg Balletts liegt. Dieses Ensemble gehört zu den Weltbesten. Gastsolistin Alina Cojocaru, zuvor Principal Dancer am Royal Ballet, reiht sich ganz klar darin ein. Sie ist eine dramatische und leichte Marguerite zugleich, die wunderbar mit dem ernsthaften Alexandre Riabko als Armand Duval harmoniert. Doch auch alle anderen Tänzer sorgen dafür, dass das Ganze mehr als seine Teile ist.

John Neumeier hat in den gut 40 Jahren seiner Karriere als Tänzer, Choreograf und Intendant jede Menge Weltliteratur tanzbar gemacht. Er hat das Genre selbst modernisiert, indem er eine klare Tanzsprache, die eng an der Musik orientiert ist, entwickelt hat. Jedes Bild ist wichtig, nie steht ein Corps-Tänzer ohne Zweck herum.

Der Tanz selbst ist das narrative Vehikel, die Tänzer benötigen keine pantomimischen Hilfsmittel zur Verständigung. Sie wissen genau, wie sie agieren. Was macht einen guten Neumeier-Tänzer aus? "Die Frage ist, wer meine Augen mit seiner unverwechselbaren Persönlichkeit fängt. Erinnere ich mich an ihn, wenn ich hinausgehe? Der technische Standard ist heute so hoch wie nie zuvor, aber viele Tänzer sehen gleich aus. Das Wichtigste ist die Ehrlichkeit. Und dass es nicht um Manierismen geht", so Neumeier.

Doch der Choreograf verändert seine Werke laufend: "Es muss immer so aussehen, als ob es die Premiere wäre." Dafür sei auch maßgeblich, "die Persönlichkeit des Theaters zu begreifen". Das Theater an der Wien verfügt über eine relativ kleine Bühne, es musste daher einiges adaptiert werden. Für Die Kameliendame sei das auch ein Vorteil, weil so "eine größere Nähe zu den Zusehern entsteht, die mehr Intimität erzeugt" .

Welche Fassung möchte Neumeier denn in der Zukunft gespielt wissen? "Immer die letzte, das ist die gültige Fassung." Eine großartige Fassung - auch dank des bravourösen Klavierspiels von Michal Bialk und der beherzten musikalischen Leitung des Wiener Kammerorchesters von Stefan Vladar. (Barbara Freitag, DER STANDARD, 7.5.2014)