1996 drehte der Schauspieler, Regisseur und Autor Paulus Manker die TV-Dokumentation "Alles ist Architektur: Porträt Hans Hollein", hier bei Aufnahmen vor Holleins Vulkanmuseum in der Auvergne.

Foto: Peter Roehsler

Hohe Gitter, Taxushecken, Wappen, nimmermehr vergoldet.

Knarrend öffnen sich die Tore. Auf dem glatt geschornen Rasen liegen ziemlich gleiche Schatten.

Zweige wölben sich zur Kuppel. Zweige neigen sich zur Nische.

Also spielen wir Theater, spielen unsre eignen Stücke, frühgereift und zart und traurig.

Die Komödie unsrer Seele, unsres Fühlens heut und gestern. Böser Dinge – hübsche Formel.

Manche hören zu, nicht alle, manche träumen, manche lachen. Manche essen Eis.

Nelken wiegen sich im Winde, hochgestielte weiße Nelken, wie ein Schwarm von weißen Faltern.

Und ein Bologneserhündchen bellt verwundert einen Pfau an.

Das ist ein Gedicht über das Belvedere von Hugo von Hofmannsthal. Das Belvedere – wo Hans Hollein aufgewachsen ist. Gegenüber, an der Ecke zur Prinz Eugen Straße. Das Belvedere war das erste architektonische Erlebnis von Hans Hollein. Das Belvedere war sein Kinderspielplatz. Kein schlechter Einstieg für ein Architektenleben. Der große Teich hatte es ihm angetan. Warum? Weil unter dem Teich die Funkleitzentrale von Wien untergebracht war für die Flugabwehr, was niemand gewusst hat, außer man hat dort gewohnt und hatte die Bauarbeiten gesehen.

"Wir graben uns auch in die Erde", lautete einer von Holleins frühen Texten über die Zukunft der Architektur (1965): "Alles, was nicht an der Oberfläche sein muss, kann in der Erde verschwinden, um so kostbares freies Land für die Menschen zu bewahren. So nähern wir uns der Zeit der vollkommen geschlossenen Umgebung, oberirdisch, unterirdisch, ober Wasser und unter Wasser, wie sie heute schon in Polarstationen, künstlichen Inseln im Meer, Flugzeugträgern, voraus¬geahnt sind, autarke Einheiten, die überleiten zur Station, zur Stadt im Weltraum. Diese Einheiten werden auch mobil sein können, wir haben das mobile Haus, wir werden mobile Städte haben."

Und das war das Zweite, das Hollein in seiner Frühzeit fasziniert hat: Die Größe, die Weite, Amerika. Nicht nur, dass er dort studiert hat, in Chicago bei Mies van der Rohe, und in Berkeley,  er hat auch mehrmals eine Autofahrt unternommen von New York bis an die Westküste, nur unterbrochen von den Pausen zum Schlafen und Essen, nur um das für einen Europäer unbekannte Gefühl der grenzenlosen Weite, des stundenlangen Geradeausfahrens zu erleben. In Europa können Sie  nicht sieben Stunden geradeaus fahren, da kommt nach zehn Minuten spätestens eine Kurve, und nach drei Stunden kommt ein anderes Land, mit einer anderen Sprache. In Amerika nicht. Das Gefühl der unbeschränkten Dimension kennen zu lernen war Holleins Programm. Die Faszination des Technischen, die Weite, die Weltraumfahrt: Das waren seine Propheten.

 Er hat sich auch, und das ist bezeichnend, als er 1966 für das Kerzengeschäft Retti am Kohlmarkt den amerikanischen Reynolds Award bekommen hat, aussuchen können, irgendetwas, das er sich in Amerika anschauen möchte, irgendein berühmtes Bauwerk, ein Werk der Architektur. Und er hat sich Cape Canaveral gewunschen, die Raketenabschussbasis, und dort vor allem das Rocket Assembly Building, in dem die Raketen zusammengesetzt werden, den damals größten gebauten Innenraum der Architektur, ein Gebäude, das so groß ist, dass sich darin sogar Wolken bilden.

Retti war 1965 Holleins erster Auftrag, ein winziges Geschäft auf nur vierzehn Quadsratmetern, eine kleine kostbare und präzise Metallschachtel aus Aluminium und Spiegel. Hier konnte er seine Glaubensbekenntnisse in die Tat umsetzen. Mit Retti schuf er ein gebautes Manifest. Hollein hat bei der nur drei Meter breiten Fassade die Tür noch einmal fast auf Schlitzbreite verschmälert, so schmal es nur ging, um beim Eintreten in den kleinen Raum doch noch das Gefühl der Öffnung, der Weite zu erzeugen. Und die beiden Schaufenster rechts und links sind nicht parallel zum Geschäft angebracht, sondern schräg, in der Perspektive des Fußgängers, der ja nicht im rechten Winkel auf das Geschäft zukommt, sondern von der Seite. Und das war natürlich ein schwieriger Weg damals, ein Behördenweg, er musste es mehrere Male einreichen, bis es dann genehmigt wurde, und hat zu Debatten geführt, ob man das nicht verändern kann oder überhaupt ganz abreißen soll, na, Wien eben. Und er hat dann für diesen Laden, der damals ungefähr 450.000 Schilling Herstellungskosten hatte, den damals größten Preis der Architektur bekommen, den Reynolds–Award, mit 25.000 Dollar, also 650.000 Schilling, mehr als der ganze Retti insgesamt gekostet hat. Und das hat die Leute dann überzeugt: wenn der Hollein für das 25.000 Dollar kriegt, na gut, dann lassen wir’s stehen.

Neue Schule des Sehens

Als der Mensch sich vom Boden erhob, fing er an zu bauen.

Er schichtete ein paar Steine auf. Schlug einen Pfahl ein. Grub ein Loch.

Architektur begann.

An heiligen Stellen setzte er kultische Zeichen, er baute sakrale Gebilde.

Er markierte Brennpunkte menschlicher Aktivitäten. Die Stadt entstand.

Stadt ist die ureigenste Schöpfung des Menschen.

Sie ist die Verkörperung seines Wollens, seiner Wünsche, seiner geistigen Kraft und Macht. (Hollein 1963)

Die Verbindung von Wohn- und Kultstätten, von oben und unten, ließ in Hollein schon früh den Wunsch nach einer in Landschaft umgewandelten Architektur wachsen, einer begehbaren Architektur, die durch eine Vielzahl von Wegen, Treppen und Rampen aktiver Bestandteil des städtischen Lebens wird, zur Landschaft für alle. Seine Entwicklung war damals durch eine intensive Beschäftigung mit der indianischen Pueblo-Architektur geprägt, deren Einfluss in vielen seiner späteren Bauten wiederkehrt. Hollein entwarf also ein „begehbares Kaufhaus“, auf dem man herumwandern und herumklettern konnte. Dieses Kaufhaus in St. Louis, Missouri, wurde leider nicht gebaut, ebenso wenig wie sein Entwurf für eine Zentralsparkasse in Floridsdorf, die Hollein ebenfalls als einen Park mit Terrassen und hängenden Gärten entwarf.

Aber die Erfüllung seiner Philosophie erfolgte dann 1982 im kleinen rheinischen Städtchen Mönchengladbach: Er hat dort ein Museum gebaut, ein Museum für Moderne Kunst, und es so präzise in einen Berg eingepasst, dass das Ganze von außen wie eine Abfolge geschwungener Reisterrassen aussieht. Betreten wird das Museum vom Dach aus. Von der Innenstadt führt eine Brücke hinüber auf das Museumsdach und von dort auf einen gläsernen Würfel zu, einen Aussichts-Würfel, ein "Belvedere", der hinabführt in die unterirdischen Geschosse. Holleins Weltklassebau ist eine fließende Folge von Raumerlebnissen, mit Sackgassen und Treppen, Durchblicken und Einblicken, die den Besucher nicht führen, sondern verführen. Lichtdurchflutete Räume, die den Besucher am Ende seines Weges anlocken, ihn hineinziehen. Hollein dachte dabei an ein lebendiges Museum, an eine Inszenierung, mit zwei Arten von Darstellern: statischen, den Kunstwerken, und beweglichen, den Besuchern. Es gibt auch keine störenden Türöffnungen mehr in der Mitte der Wände, die Eingänge zu den Räumen sind an den Ecken untergebracht, die Wände bleiben ganz der Kunst vorbehalten. Hollein wollte nicht die lineare Aufreihung der Räume, die "Enfilade", wo man von Raum zu Raum gehen muss, sondern er wollte eine ganze Fülle überraschender Rundgänge, die nicht geleitet sind, von museumspädagogischen Vorgaben bestimmt, sondern frei, anarchisch, phantasievoll. Es war ein Plädoyer für eine völlig neue Schule des Sehens und begründete eine völlig neue Form von Museumsarchitektur. Hollein wurde dafür mit dem Pritzker-Preis, dem "Nobelpreis für Architektur" ausgezeichnet.

In Mönchengladbach hat Hollein allerdings auch einen kongenialen Mitstreiter gehabt, den Museumsdirektor, der, ihn als Bauherr unterstützend, dieses Museum ermöglicht hat. So ein Partner hat ihm in Österreich gefehlt, als es um das Guggenheim Museum in Salzburg ging. Auch ein unterirdisches Museum, das man hätte erobern und durchwandern können. Guggenheim Salzburg war, und das ist eine einzigartige städtische und stadträumliche Situation, im Zentrum der Stadt, umgeben von den wichtigsten Gebäuden der Stadt, ein riesiger Felsblock, im Mönchsberg. Man konnte im absoluten Zentrum der Stadt in den Fels hinein gehen und hinaufgehen, in dem Fall aber auch zum Licht, das war fast ein bisschen eine Wagnerianische Angelegenheit, das Emporsteigen zur Sonne, zum Licht. Für seinen Wettbewerbsbeitrag erhielt Hollein 1990 zwar den ersten Platz, aber sein bahnbrechender Entwurf wurde nicht gebaut, er wurde vom Salzburger Landeshauptmann verhindert. Schade. Sehr schade. Sträflich. Das Projekt des unterirdischen Felsmuseums hätte auch Österreich die Chance gegeben, ein wirkliches Jahrhundertprojekt zu verwirklichen.

In Österreich hat Hollein erst sehr spät einen Bauherrn gefunden, der sich bedingungslos zu ihm bekannt hat und entschied: das Haas-Haus wird gebaut. Bürgermeister Helmut Zilk hat in der Manier des aufgeklärten Absolutismus das Haas-Haus damals durchgesetzt. Anlässlich einer Preisverleihung in Österreich hat Hollein einmal gesagt: "Dankeschön für die Auszeichnung, aber ich möchte als Architekt nicht nur für das Ansehen Österreichs etwas tun, sondern auch für das Aussehen." Beim Haas-Haus ist ihm das wahrlich gelungen.

Eine Facette des Wienerischen spiegelt die Frage nach der Wirklichkeit. Traum und Wirklichkeit hieß auch eine große Ausstellung, in der Hans Hollein die Zeit um 1900 zelebrierte. Aber es ist unmöglich, Traum und Wirklichkeit in dieser Stadt zu trennen, Phantasie und Realität als Gegensätze zu sehen. Was ist wirklich? Was ist Traum? Sigmund Freud gibt darauf Antwort — und Hans Hollein. Er entlarvt die Unzuverlässigkeit der Realität. Er verfremdet, er täuscht, transformiert, schockiert, verwundet. In Wien kann man kaum am Theater vorbeigehen, an jener Kunst, die wie keine andere am Schnittpunkt von Realität und Illusion steht. Alle Architektur, ja unser ganzes Leben, entlarvt sich dabei als Inszenierung, die der Bühne bedarf. Wir spielen unsre eignen Stücke, die Komödie unsrer Seele... Hans Hollein hat es verstanden, auf vielen verschiedenen Ebenen zu inszenieren.

Im Vulkanmuseum, das Hollein 2002 in der französischen Auvergne gebaut hat, ist genau das Umgekehrte zu Guggenheim, da ist es ein Abstieg, ein Abstieg zum Mittelpunkt der Erde, wie in Jules Vernes Roman oder in Dantes Inferno. Es waren auch die Dante-Zeichnungen von Gustave Doré, die die ersten Ideengeber zu diesem Projekt waren. Wie ein versunkener Ozeanriese gräbt sich das Museum ins Erdinnere, am Fuße des Puy de Dome, auf 1000 Metern Höhe, inmitten erloschener Vulkane. Man begibt sich 45 Meter hinab in den Abgrund, in einem groß-angelegten dramatisch inszenierten Erlebnis des Hinabsteigens in unterirdische Zonen, in einen Krater, in den Lavastrom hineingebaut, in den Basalt, durch tropische Gärten und vulkanische Untergangs-Szenarios, um am Ende aus dem Inferno wieder ans Tageslicht zu treten. Das Eindringen in unter der Erde gelegene Zonen steht für Hollein in Beziehung zur Neugierde des Menschen und dessen Sinnsuche. So wird der Bau auch zu einer Beschäftigung mit elementaren Fragen wie der Erschaffung der Erde oder der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins. Indem Hollein mit seinem Gebäude unter die Erde wandert, nähert er sich auch der Zone des Todes an.

Transformationen  nannte Hollein Mitte der 60er Jahre eine Reihe von Collagen, in denen technische Objekte in eine Landschaft montiert wurden. Ein Flugzeugträger als ganze Stadt, der wie eine utopische Arche Noah in der unberührten Natur gestrandet zu sein schien. Ein Rolls-Royce-Kühlergrill, eine Zündkerze, ein Kaffeeservice – als monumentale Gebäude deklariert. Ein technischer Gegenstand bekommt kultische Bedeutung, indem seine Dimension manipuliert wird. Das Große und das Kleine sind keine Gegensätze mehr, nur Eckpunkte eines unbegrenzten Reichtums an Variationen des Maßstabs, ein Spiel mit der Dimension.

So einen Flugzeugträger hat Hollein Mitte der 90er-Jahre in Frankfurt am Main stranden lassen: Das Museum für Moderne Kunst, das sich, gebaut auf einem dreieckigen Grundstück, den Spitznamen "Tortenstück" eingehandelt hat. Es ist als ob ein Objekt aus Holleins frühen Photomontagen nun unerklärlicherweise in der Stadt vor Anker gegangen ist, und in Keilform in das urbane Gewebe eindringt, um ihm eine geistige und visuelle Wunde zuzufügen. Hollein war ein Schamane und todbringender Erzähler, der einschnitt und durchbohrte, und sich daran begeisterte, dem Körper der Stadt Dolchstöße beizubringen, um daraus einen fantastischen Blutstrom hervorquellen zu lassen. Auch der Golfclub Ebreichsdorf bei Wien zeigt diese Charakteristik: in die Natur eingegangen, gestrandet, eingesunken.

Gleichzeitig mit den Transformationen befasste sich Hollein aber auch mit der Frage autarker Minimalräume und definierte Raumkapseln und Raumanzüge als perfekte Behausungen. Hollein war damals eingeladen für die Biennale der Jungen in Paris einen Beitrag zu liefern und dann ist die Mitteilung gekommen: sie haben einen Quadratmeter zur Verfügung. Und da hat er gesagt: Ich stelle dort eine Telefonzelle auf und die rüste ich aus als minimale Behausung, in der ich sitzen kann, vor mir ist ein Monitor, der mich mit allen Informationen versorgt, der mir Unterhaltung bringt. Ich sitze praktisch auf einem Thron, der gleichzeitig auch die Fäkalienabfuhr ist; ich habe die wichtigsten paar kleinen Dinge, die ich brauche in dieser Zelle fürs Leben und Überleben angeordnet und ich kann, wenn ich nicht mehr lebe, diese Zelle dann auch als Sarg verwenden. Und kann mich in meiner Minimalbehausung dann auch begraben lassen.

Wandler zwischen den Welten

Wir müssen die Architektur vom Bauen befreien» war sein Credo oder Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken! und Alles ist Architektur - der berühmte Satz von 1967.

Künstler und Architekt zur selben Zeit zu sein und beides auf gleich hohem Niveau ist eine sehr seltene Eigenschaft. Hollein war immer beides, ein Künstler, niemals nur an Architekturproblemen um ihrer selbst willen interessiert. Das war seine Form von Unabhängigkeit. Er war ein Wandler zwischen den Welten wie kaum ein anderer Architekt. Er hat immer schon wie ein Bildhauer, ein Grafiker oder wie ein Goldschmied Architektur gestaltet. Gebautes sollte seiner Meinung nach ästhetischen, im Idealfall sogar kultischen Ansprüchen genau so genügen wie Gemälde, Skulpturen, Gralskelche oder Monstranzen.

Ich war immer der Meinung, dass Hollein Mozarts Zauberflöte“ ausstatten sollte. Dazu ist es leider nie gekommen. Er hat überhaupt nur einmal in seinem Leben ein Bühnenbild gemacht, vor fast 35 Jahren, für Arthur Schnitzlers Komödie der Verführung, am Burgtheater. Da haben wir uns auch kennen gelernt, das hat unsere Freundschaft begründet. Viele seiner Bauten sind eigentlich inszenierte Räume, Bühnenbilder für die unterschiedlichsten Anlässe. Von einem Meister der architektonischen Inszenierung. Unvergessen die drei längst verschwundenen Filialen des Österreichischen Verkehrsbüros, die er mit den Chiffren der Urlaubssehnsüchte – Palmen, Sandstrand, Tempel, Pyramiden, Flaggen, Vögel – als edle Designobjekte ausstattete. Oder die Juweliergeschäfte Schullin 1 und 2, am Graben mit der Wunde und am Kohlmarkt mit den zwei Säulen und dem rituellen Messer, dann kommt Retti, dann das Ausgrabungsfeld am Michaelerplatz, als Spiegel einer kontinuierlichen Transformation der Stadt, dann hinüber zur Albertina mit dem Flugdach und dann noch die Boutique Metek, schräg gegenüber der Kapuzinergruft, ein ganz frühes Bauwerk aus Kunststoff-Fertigteilen. Und dann zurück zum Haas-Haus. Das ist der kleine Hollein-Rundgang, den ich immer mache, wenn Freunde zu Besuch in Wien sind. Hollein hat dabei immer vor Augen geführt, dass es bei Architektur nicht nur um Funktionalität geht, sondern auch um das sinnliche Verstehen von Räumen: um Farben, Formen, Proportionen, Materialien. Um Fühlen, Hören, Riechen.

Im Grunde war Hollein ein Funktionalist. Nur war sein Funktionalismus–Begriff ein wesentlich erweiterter und er hat sich immer gegen den zu eingeschränkten Funktionalismus–Begriff gewehrt, der sich primär auf physische Phänomene beschränkt hat, und auf quantifizierbare Aspekte des Bauens. Quadratmeter, Lichteinfall, Kubikmeter, Lux, aber keinerlei Rücksichtnahme auf psychologische Erfordernisse, psychische Funktionen. Begriffe wie Atmosphäre oder Gemütlichkeit. Als Hollein in Chicago am Illinois Institute of Technology studiert hat, hat er einmal Mies van der Rohe gefragt, den großen Meister der Moderne, was er als die schwierigsten Aufgaben, Bauaufgaben eines Architekten ansieht. Und Mies van der Rohe hat gesagt: "A church and a bar", eine Kirche und eine Bar. Und das sind genau Bauaufgaben, die nur mit "nicht quantifizierbaren" Elementen zu tun haben: wie bringe ich die Atmosphäre einer Bar zustande oder wie die metaphysische Kraft einer Kirche.

Es geht in der Architektur um das Überleben. Das Überleben während des Lebens und das Überleben nach dem Leben, nach dem Tod. Das waren für Hollein die zwei Grundinitiativen des Menschen, überhaupt Architektur zu machen. Dass Architektur auf der einen Seite etwas Rituelles ist, etwas Sakrales, und auf der anderen Seite ein Mittel zur Erhaltung der Körperwärme. Und zwischen diesen zwei Polen hat sich durch Jahrtausende das Bauen zur Architektur entwickelt. Und der Mensch bewegt sich innerhalb dieser Grenzen, je nach der Energie, die er hat, und je nach den Umständen, in denen er lebt, in seiner architektonischen Aktivität. Der Eskimo muss sich hauptsächlich damit beschäftigen, tatsächlich tagtäglich zu überleben. Dadurch ist er der Designer par excellence. Es gibt kaum etwas, wo jemand so toll entwickelt hat, aus ganz geringen Ressourcen, Schnee, Eis, aus Wasser einfach ein Gebäude baut, einen Iglu, während der Südseeinsulaner, der keine Überlebensprobleme in Schnee und Eis hat, der kann in der Sonne unter der Palme liegen und die Kokosnuss fällt ihm in den Schoss und dann kann er sich stundenlang rituellen Tänzen widmen und seine Phantasie spielen lassen. Er hat also sehr viel Energie frei für Dinge, die weniger mit dem Überleben zu tun haben, als entweder mit dem Erleben oder eben mit dem Leben nach dem Leben, dem Überleben nach dem Tod.

Hollein inszenierte im Österreichischen Pavillon in Venedig, wo er 1972 Österreich bei der Biennale vertrat, einen klinisch weißen Raum mit Objektsymbolen für die Stationen des Lebens von der Wiege bis zur Bahre: Werk und Verhalten. Leben und Tod. Alltägliche Situationen. Das Innere hat aus einem Raum bestanden, der einfach aus Möbel im weitesten Sinne bestand: ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, aus glänzenden, weißen Kacheln. Durch die enge Pforte in der durchbrochenen Wand führte ein Holzsteg hinaus zum Kanal. Dort lag, aufgebahrt unter einem weißem Zeltdach, eine verschnürte menschliche Gestalt. Unter diesem Katafalk war ein Floß mit einem leeren weißem Stuhl vor Anker gegangen. Floß und Pfahlbau bildeten die architektonischen Zeichen für das Ende einer Lebensreise. Der Stuhl auf diesem Floss wiederholte einen Stuhl aus der Einrichtung, der wiederum ein Erinnerungsbild war aus des Künstlers Kindheit. Es gibt im Familienalbum der Holleins eine Fotografie, die den Vater von Hans Hollein mit dem Sohn zeigt: Die beiden sitzen sich gegenüber auf einem Floß, das über einen See treibt. Und es gibt von 1972 wiederum eine Aufnahme, die Hollein mit seinem Sohn, mit Max zeigt. Auch Tochter Lilli war damals in Venedig schon dabei, im Bauch ihrer Mutter Helene. Sie kam einen Monat später auf die Welt.

Der Zugang zwischen Tod und Leben, zwischen Licht und Finsternis, ist typisch für alle positiven Riten des Totemismus: Der Tod ist Höhepunkt des Lebens und wird in der Gemeinschaft durch das Opfer und durch das Errichten von Totems wach gehalten. Hans Hollein erschuf neue Kultobjekte: Todessehnsüchte, Todesängste, Todesfreuden. Und was die Architektur fast verlernt hat, stellte Hollein neu zur Diskussion: Die Auseinandersetzung mit der Krankheit, der Wunde, dem Tod.

Aufbauen – und Aushöhlen: Seit seinem Studienaufenthalt in Chicago war Hans Hollein fasziniert von Wolkenkratzern, von gebauten Türmen, vom Errichten und Setzen von Signalen. Gleichzeitig aber auch vom Eingraben, vom Schutz Suchen, von der Raumgewinnung im Felsen oder im Erdreich. Und in dieses Erdreich haben wir heute eine Grube gegraben, um Hans Hollein selbst hineinzulegen.

 Ich möchte zum Schluss noch einmal auf Hugo von Hofmannsthal kommen, aber ich habe das Gedicht vom Anfang ein wenig verändert, paraphrasiert. Als Gruß an Hans, als Ausblick, als "Belvedere", als ein Willkomm in eine andere Welt:

Tiefe Gruben, hohe Türme. Häuser, immer mehr vergoldet.

Säle neigen sich zur Nische. Banken wölben sich zur Kuppel.

Hoch, am Haas-Haus, tönen Geigen und Trompeten,

und sie scheinen den Gedanken eines Architekten zu entströmen,

der rings schmunzelnd auf dem Dache sitzt – und zeichnet.

Schöner Dinge – krasse Formel.

Seines Fühlens heut und gestern, die Komödien seiner Seele.

Türme wiegen sich im Winde, hoch gestählte gläserne Türme,

wie ein Schwarm von weißen Falken. 
Und Hans Hollein schaut verwundert seine Stadt an...

(Paulus Manker, Album, DER STANDARD, 10./11.5.2014)