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Rappelkopf (Herbert Föttinger, li.) scheint am Boden des "Original-Zauberspiels" ernüchtert angekommen. Förster Astralagus (Erich Schleyer) schießt ihm wohl gleich eine Gams.

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Mit einer wehmütigen, aber auch arg reflexionsarmen Inszenierung von Raimunds "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" übersiedelt das Wiener Josefstadt-Theater in ruhigere Gewässer. Hans Gratzer und Hanspeter Horner erzählen. Unklar bleibt, was.


Wien - Der grimmige Lebensekel, der den Gutsbesitzer Rappelkopf gegen Frau, Kind und Gesinde völlig überzogen wüten lässt, ist ein Horror Vacui - und zugleich eine tief sitzende Erkenntnis. Das abstrakte Zirkulieren der Kapitalströme - Ferdinand Raimund, der unglückliche Dichter von Der Alpenkönig und der Menschenfeind, schreibt auch dann noch über Geld, wenn er lediglich Feen, Elfen und Genien bemüht - folgt keiner nachvollziehbaren Regel.

Das Wüten der Geschäftswelt - heute: des "Kapitals" - verheert die Seelen. Schlimmer noch: Rappelkopf (Herbert Föttinger), im Wiener Josefstadt-Theater ein großstadtflüchtiger, erregungsheiß losbellender Angstbeißer und Verbaltotschläger, gewärtigt die Untreue seiner Lieben, weil er den drohenden Verlust seines Stammkapitals fürchten muss und die auf Loyalität gegründeten Beziehungen als bloße Anhängsel von Geldverbindungen erkennt.

In wenigen erkenntnishellen Augenblicken macht sich Hans Gratzers und Hanspeter Horners ansonsten sterbensmatte, frühzeitig welke Raimund-Inszenierung auf die Verstörungszusammenhänge ihren eigenen Reim.

Dann klammert sich Föttinger wie besinnungslos an eine Schuhschachtel in Tischladenform, in deren Inhalt auch sein geschundenes, ewig fröstelndes Eheweib in der Fransenstola (Sandra Cervik) gedankenverloren nachkramt, um einen Zettel aus Raimunds Nachlass herzinnig nachzubeten: irgendetwas über Traurigkeit und Liebeszänkerei.

Man möchte Schierling reichen und eine Schale grünen Abführtees - so abgezehrt glänzt die voralpine Pracht des von allen eingebildeten Hunden der Tollwut gebissenen Gutensteiner Vormärz-Dichters. So ganz außer jeder Diskussion steht, was diese Meditation über die Bedingungen friedvollen Zusammenlebens heute überhaupt (noch) bedeuten könnte.

Raimund predigt beileibe nicht die Armut; nichts Erschütternderes findet sich als die Köhler-Szene nach Rappelkopfs überstürztem Auszug, als der menschenflüchtige Gutsbesitzer die vor Hunger kaum noch stehen könnenden Hinterwäldler aus deren Kate verscheucht.

Hasch-mich-Spiele

Im Josefstadt-Theater, wo man mittlerweile schon darüber frohlockt, dass Szenen unfallfrei über die Bühne mit ihren ewig gleichen Portalbögen gehen (Ausstattung: Rolf Langenfass), pflegt man Hasch-mich-Spiele. Der Diener Habakuk (Ossy Kolmann), dessen einzige Seligkeit in der Einbildung besteht, er hätte zwei Jahre in Paris gedient, wischt als kreidebleiches Hohes Alter in Knopfgamaschen über die Bühne - schluckt die Pointen herunter wie Beruhigungspillen und wirkt angemessen entrückt.
Nach einigen spaßgesellschaftlichen Theatermangelübungen zu Saisonbeginn wird hier vom gilbenden Blatt inszeniert. Nur: was? Föttingers brunftkeuchende Selbsterregung, seine panische Nackenstarre, sein gehetztes Außer-sich-Sein ankern mit beiden Beinen fest im 19. Säkulum. Schopenhauers Nihilismus irrlichtert von ferne. Hier, im Vormärz eines leergebrannten Theaters, zackt die Alpe, gähnt der Pappendeckelgrat - und heraus steigt ein sonor sedierter, alpenköniglicher Jägersmann (Erich Schleyer), dem man nicht zutraut, eine Autobahntaufe unfallfrei zu überstehen.

Im Josefstadt-Theater weist man alle Anwandlungen einer schmerzhaft einsetzenden Reflexion von sich. Man erfreut sich kindlich an Pappendeckelrössern, die an Doppelseilen gen Schnürboden auffahren. Man wirft wackere Schauspielschüler in Tüllwickel und lässt sie stoa-steirisch dilettieren. Gratzers Theater behauptet das Märchen, von dessen erschütternder Auflösung Raimunds Wahnwitz erzählt. Der freundliche Applaus sollte eine winterliche Beruhigung anzeigen: Lasst Gratzer und sein Team arbeiten! Zu befürchten steht, dass darüber der Genius des Theaters allmählich entschläft. (DER STANDARD, Printausgabe, 6./7./8.12.2003)