Sylvester Graham war selbsternannter Ernährungsguru. Sein Todestag jährt sich heuer zum 160. Mal. Das Grahamweckerl österreichischer Prägung lässt sich nur mittelbar auf Sylvester Graham zurückverfolgen.

Foto: Wolfgang Thaler

Gesichert ist hingegen, dass es sich um ein eher freudloses Stück Brot handelt.

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Natürlich ist es ungerecht, den Vater des Grahamweckerls pauschal für die Essstörungen des Wohlstandsmenschen verantwortlich zu machen - aber eine Teilschuld trifft Sylvester Graham schon: Immerhin war er der erste einer langen Reihe von meist selbsternannten Ernährungsspezialisten, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (und bis heute) dafür sorgen, dass unsere Essgewohnheiten nicht länger einem kulturell gewachsenen Bezug zur Natur und zum Leben entspringen, sondern von kurzlebigen pseudowissenschaftlichen Theorien bestimmt werden.

Auch war der 1794 in Connecticut geborene Graham kein Wissenschafter, sondern ein presbyterianischer Prediger, der sich vor allem Gedanken über die Verbindung von Sexualtrieb und Nahrungsaufnahme machte. Als strammer Puritaner war Graham überzeugt, dass Fleischgenuss die Fleischeslust steigere und speziell die "gefährliche Praktik" der Masturbation fördere, die, wie er nie vergaß zu unterstellen, angeblich zu Blindheit führe. Generell sah Graham im Vegetarismus ein wirksames Rezept gegen sexuelles Verlangen - und damit der seiner Meinung nach wahren Ursache der meisten Krankheiten.

Unerfindliche Gründe

Umso erstaunlicher, dass manche seiner Theorien durchaus Hand und Fuß haben und ernährungswissenschaftlichen Überprüfungen bis heute standhalten. So ging Graham etwa davon aus, dass das raffinierte Mehl im Weißbrot zu wenige Nähr- und Ballaststoffe beinhalte und im Sinne einer ausgewogenen Ernährung durch Vollkornmehl ersetzt gehöre. Aus unerfindlichen Gründen war er jedoch der Überzeugung, dass es von Vorteil sei, nicht das ganze Korn zu mahlen - wie bei Vollkornmehl üblich -, sondern es erst in seine Bestandteile Kleie, Keimling und Endosperm (der Hülle des Keimlings) aufzusplittern, alles separat zu mahlen und erst dann zusammenzumischen.

Das Graham-Mehl war somit geboren. Es wurde vorerst in Form von Graham-Crackern von den Anhängern des Reverends - den sogenannten Grahamiten - in großen Mengen verdrückt. Wie genau dann unser Grahamweckerl entstand, ist nicht geklärt. Tatsache aber ist, dass das österreichische Gebäck von heute wenig mit den Crackern der ersten Ernährungs-Apostel gemein hat, die in Amerika noch immer als Teil der nationalen Esskultur gelten und gerne zu einem Glas Milch geknabbert oder zu Kuchenstreusel zerrieben werden.

Das moderne Grahamweckerl besteht hauptsächlich aus weißem Weizenmehl, das mit Weizenvollkornschrot vermischt wird. So kann es zwar ernährungstechnisch mit Vollkornbrot kaum mithalten - fällt dafür aber geschmacklich weit hinter normales Weißgebäck zurück. In den Jausentheken der Supermärkte findet man es gern gefüllt mit Putenformschinken und garniert mit einem vitaminreichen rohen Paprikaringerl, das zumindest dafür sorgt, dass man sich noch lange aufstoßend daran erinnert, wie gesund man nicht gesnackt habe. Zudem bröselt das Weckerl gerne, ohne deswegen knusprig zu sein. Außer weißem Mehl enthält es oft weitere Bestandteile wie Sojalecithin, die sein Namensgeber mit Sicherheit als des Teufels verdammt hätte.

Absurde Lehren

Graham folgten viele weitere Diätprediger, die ebenfalls absurde Lehren verbreiteten und trotzdem großen Einfluss auf die sich industrialisierende Gesellschaft ausübten, in der Lebensmittel immer mehr zu einer leicht erhältlichen Selbstverständlichkeit wurden - und also zunehmend gesundheitlichen und moralischen Kriterien zu entsprechen hatten.

Einer von ihnen war Horace Fletcher (1849-1919), den man auch den Great Masticator nannte, weil er der Überzeugung war, dass Speisen wie auch Flüssigkeiten (!) vor dem Schlucken mindestens 32-mal zerkaut gehörten. Davon - und vom Verzicht auf Alkohol und Proteine - versprach er sich neben einer eisernen Gesundheit auch einen geruchlosen Stuhlgang. Als Beweis für seine Theorien erfreute er Bekannte und Prominente in ganz Amerika mit Proben seines eigenen Stuhls, die er per Post verschickte.

Auch John Harvey Kellogg (1852-1943) war Vegetarier. Auch sein Name lebt in vorgeblich gesundheitsfördernden Produkten weiter: in jenen meist extrem zuckerhaltigen Cereals nämlich, deren diätetische Vorzüge sich als diametral entgegengesetzt zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg erwiesen. Kellogg war Siebenter-Tag-Adventist und glaubte ebenfalls fest daran, dass nur eine strenge Diät den selbstzerstörerischen Sexualtrieb seiner Landsleute zu bremsen vermöge.

Zucker und Fett sind die Feinde

Spätestens nach der sexuellen Befreiung zu Beginn der 1970er-Jahre fand der puritanische Blödsinn sein Ende. Von nun an waren Zucker und Fett die Feinde - und eine Überflutung des Markts mit No-Sugar- und No-Fat-Produkten die Folge. Blöderweise explodierte just darauf das durchschnittliche Körpergewicht der Amerikaner - und die sexuell überhaupt nicht ansprechende Fettsucht wurde zur Volkskrankheit.

Neue Theorien mussten her. So gelang es dem Kardiologen Robert Atkins (1930-2003) in den 1990er-Jahren tatsächlich, Millionen US-Bürger davon zu überzeugen, dass ihre Gewichtsprobleme nicht durch die Einnahme von Fett, sondern von Kohlenhydraten entständen. Offenbar übersahen er und seine Anhänger dabei, dass die meisten Italiener täglich gleich zweimal Nudeln essen - und trotzdem keineswegs unattraktiver sind als die meisten Amerikaner. Doch die Vorzüge von traditioneller, lustvoller Ernährung, wie eben italienischer Pasta aus weißem Mehl, hatte ja schon Graham erfolgreich verdrängt. (Georg Desrues/Der Standard/rondo/28/01/2011)

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