Brüssel - Höchstwahrscheinlich ist es sogar die Welturaufführung, die René Jacobs an Land gezogen hat: Francesco Cavallis Eliogabalo , eine Oper über den Sittenverfall im alten Rom. Die Zeitgenossen Cavallis hatten es als sein "Meisterwerk" gepriesen, aber die für den Karneval 1668 in Venedig vorgesehene Aufführung wurde abgesagt. Über die Gründe kann man nur mehr spekulieren: Vielleicht wurde der Kompositionsstil des über 60 Jahre alten Komponisten inzwischen als antiquiert empfunden, oder es konnten inhaltlich einzelne Szenen, wie der Tyrannenmord, vor der Zensur nicht bestehen.

Stilistisch und inhaltlich zeigt Eliogabalo Gemeinsamkeiten mit Claudio Monteverdis ebenfalls für Venedig komponiertem Alterswerk Die Krönung der Poppea und knüpft damit an die Anfänge der Oper an. Doch gegenüber Monteverdis Kaiser Nero ist Kinderkaiser Heliogabal eine vielschichtigere Figur: er erfreut sich an sadistischen Orgien, umgibt sich mit zwielichtigem Personal, etwa Zotico, einem Mann in Frauenkleidern (Jeffery Thompson), besetzt aber auch - jeden modernen Frauenrechtler übertrumpfend - den römischen Senat am Ende des ersten Akts ausschließlich mit Frauen.

Der Kinderkaiser wird von einer Frau gespielt, deren großer Hosenlatz Phallisches andeutet, Transsexualität bestimmt die Komposition dieser Barockoper. Für das sittenstrenge Rom ist Heliogabal natürlich ein Ärgernis, er wirkt fast, wie Jacobs begeistert meint, wie eine Vorwegnahme Don Giovannis, des bestraften Wüstlings, der ebenso wie Heliogabal die Gesellschaft um sich herum und ihre Liebeswünsche verwirrt.

Barocke Opern unter Jacobs sind in der Regel nicht unter vier Stunden zu haben. Das kam diesmal auch ihm selbst und seinem Ensemble, dem concerto vocale, zugute, das sich bei der Premiere erst langsam einspielte. Die Zeit braucht aber vor allem der Zuhörer, denn zum wüsten Geschehen steht die formstrenge Musik in spannungsvollem Gegensatz - mit elendslangen Rezitativen und einförmig wirkenden Arien.

Doch fast unmerklich leuchten plötzlich betörende Lamenti auf, funkeln Duette und Terzette - ein reizvolles Wechselbad der Wahrnehmung also zwischen fern und nah. Das gilt auch für die Regie. Vincent Boussard abstrahiert das wüste Geschehen zu surrealen Bildern und stellt in den zeitlosen, die Körperlichkeit betonenden Kostümen von Christian Lacroix die Figuren in den Vordergrund.

Zunächst scheint auch das statuarisch langweilend, bis man immer deutlicher sieht, wie die Figuren mit ihrem Körper - ihrem ein wenig zurückgebogenen Rücken, ihrem leicht vorgestreckten Arm - dem Gesang eine Geste geben und ihn intensivieren.

Aus dem imponierenden Sängerensemble fallen neben Silvia Tro Santafe als Heliogabal, Lawrence Zazzo als enttäuschter Liebhaber und Giorgia Milanesi als Kaiser Alessandro Severo, der mit Heliogabals Lasterherrschaft endlich Schluss macht, auf. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.4.2004)