Noch ist es ein wenig zu früh, um zu frohlocken. Aber nach den ersten zehn Tagen Ruhrfestspiele unter der neuen Leitung des Berliner Regie-Granden Frank Castorf weht ein spürbar frischer Wind der Erneuerung über den grünen Hügel im Stadtpark von Recklinghausen, wo das vor einigen Jahren runderneuerte Festspielhaus in den Dornröschenschlaf heiteren Unterhaltungstheaters gefallen war.

Da erscheinen die treffsicheren Subversionen eines Christoph Schlingensief umso angebrachter. Mit einer Wagner-Rallye schlug er jüngst den Bogen hin zum grünen Hügel in Bayreuth, wo er im Sommer Parsifal inszeniert.

Schlingensiefs Stoßrichtung könnte sein viertägiges Rallyespektakel schon vorgegeben haben: Mit Lautsprechern auf dem Wagendach fuhren zehn Rallyeteams kreuz und quer durch den Pott, beschallten die Umgebung mit Wagner-Musik und beantworteten Quizfragen. Aus jedem Lautsprecher ertönte eine andere Instrumentengruppe, sodass nur zum Rallyestart und -ende ein synchronisierter Wagner-Klang vernehmlich war.

Die Rallye endete mit einer Preisgala: Die Einfahrt der Rallyeteams wurde live ins Festspielhaus übertragen, begleitet von Cheerleader-Aerobic und Wagner-Ouvertüren. Auch Interviews mit Schlingensiefs "Stars" durften nicht fehlen, einer aus Rentnern, Arbeitslosen und Behinderten zusammengewürfelten Truppe, die den Meister seit je begleitet. Die bizarre Veranstaltung mündete in ein denkwürdiges Bild: Die Rallyebeteiligten bildeten einen Pulk auf der Bühne, so als würden Journalisten Motorsportstars umringen - hier zu Rienzi-Klängen.

Die augenzwinkernde Schieflage des Bildes ist bezeichnend für Castorfs Gesamtkonzeption seiner ersten Festspieledition. Zunächst mutet es frech an, die für die Volksbühne seit Jahren erprobte Ost-West-Polarisierung auf das gewerkschaftliche Festival zu übertragen. Doch im neuen Kontext gewinnt die alte Konfrontation frischen Sinn.

Vergegenwärtigt man sich, dass das Ruhrgebiet örtlich Arbeitslosenquoten von bis zu 20 Prozent aufweist, liegt der Gedanke, das alte industrielle Herz Deutschlands als "Osten des Westens" zu sehen, gar nicht fern. Castorf bezeichnet das Ruhrgebiet lieber als "Wilden Westen" und hat sich vor das Festspielhaus von Bert Neumann eine klitzekleine "Westernstadt" bauen lassen, einschließlich Saloon.

Seine Fortsetzung findet die Westernästhetik auf der Bühne des Festspielhauses, wo Castorf zum Auftakt eine eigene Adaption des ersten naturalistischen Romans der USA MC Teague: A Story of San Francisco inszenierte - unter dem Titel Gier nach Gold.

In der Geschichte scheitert der gutmütige Titelheld am Geiz seiner Frau und den Anfeindungen durch seinen besten Freund. Bert Neumann hat dafür die Vollkulisse einer Westernstadt gebaut. Wie bei seinen Bühnenadaptionen großer russischer Romane lässt Castorf die Geschehnisse hinter der Bühne live abfilmen und via Leinwand in den Zuschauerraum übertragen.

Dabei verschmelzen der Inhalt eines Dreigroschenromans und die kolportagehafte Form der Szene kongenial. Näher an den Abgründen von Big Brother & Co als mit dieser geldgeilen Gesellschaft war Castorf nie. Sein Gier nach Gold ist eine vierstündige Schauspielerverausgabung im Bühnenschlamm vor dem Saloon, schmutzig wie das Leben - und doch menschenverliebt.

"Kunst gegen Kohle" war das Motto der Ruhrfestspiele , als sie 1945 aus dem Tausch von Hamburger Theater gegen Ruhrkohle entstanden. Castorf verweist auf die Doppeldeutigkeit des Mottos - und setzt ihm seinen Ruhr-Slogan entgegen: "No Fear 2004". (DER STANDARD, Printausgabe, 12.5.2004)