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Fotoprobe der Oper "Royal Palace" von Kurt Weill

Foto: apa/DIETMAR STIPLOVSEK
Deftig Zwischengeschlechtliches und fulminant Fantastisches: Die Bregenzer Festspiele eröffneten die neue Ära David Pountneys mit zwei frühen Einaktern von Kurt Weill, "Der Protagonist" und "Royal Palace"; Nicolas Brieger inszenierte das selten gespielte Doppel.


Bregenz – In Bregenz gibt es einen Milchpilz. Der Milchpilz ist ein drei Meter großer, rot- weiß gepunkteter Fliegenpilz nächst dem zentralen städtischen Bahnübergang, in dessen Strunk freundliches Verkaufpersonal frische Fruchtmilchgetränke feilbietet. Der Milchpilz erscheint dem erfreuten Betrachter wie eine Spore, die sich aus einem fernen Fantasiepark irrtümlich in die steinerne Häuserlandschaft verflogen hat – ein chromatischer und stadtbildlicher Irrläufer, Sinnbild des kindlich Fantastischen und Fluchtpunkt feinster Regres^sionsfantasien.

In Bregenz gibt es auch ein Kunsthaus. Mit seiner rechteckigen Form und seiner semitransparenten, milchigen Glasfassade strahlt es eine klare Rätselhaftigkeit aus, gleich einer kühlen architektonischen Sphinx des Computerindustriezeitalters. Wüsste man nicht um seinen Zweck als Ausstellungshalle, man müsste nachgrübeln, was es enthält: Bits und Bytes? Kabel, Leitungen, Prozessoren? Künstliche Intelligenz? Leere? Etwas ängstlich würde man um das Ding einen kleinen Bogen machen.

Kindliche, knallbunte Fantastik und innovative künstlerische Avantgarde: Beides steht nicht nur im Stadtbild der Vorarlberger Landeshauptstadt nah und friedlich nebeneinander, auch bei den – heuer erstmals von David Pountney verantworteten – Bregenzer Festspielen bestimmen die beiden künstlerischen Welten in geschwisterlicher Eintracht die Szenerie.

Und auch die beiden von Nicolas Brieger unternommenen szenischen Umsetzungen zweier früher Einakter von Kurt Weill wirken wie zwei inszenatorische Annäherungen an die beiden Themenfelder: Dominiert in Der Protagonist das auf altmodische Weise fantastische, von Hand, Mensch, Seilzug und patinabehafteter Requisite betriebene Theater, so taucht man bei Royal Palace ein in einen kühlen Kosmos der Spiegel und Projektionsflächen, in eine wundersame Hightech-Theaterwelt, in der selbst die Akteure wie Hologramme erscheinen.

Spiel im Spiel

Was ja auch wunderbar zu den Stücken passt. Im Protagonisten sehen wir eine (elisabethanische) Schaustellertruppe in einem Gasthof Quartier beziehen. Deren Chef adoriert die wunderschöne Schwester, diese liebt einen jungen Mann. Die Schwester gesteht dies dem Bruder, unglücklicherweise in einem Augenblick höchster darstellerischer Rage seinerseits. Prompt wird sie erstochen.

Vor und auf schräg gestellten Reihen von altmodischen Theatersesseln (Bühne: Raimund Bauer) werden falsche Bäuche, Gesäße und Brüste umgeschirrt, wird in frohfarbiges Kleiderwerk geschlüpft (Kostüme: Margit Koppendorfer): theatralisches Utensil, so possierlich wie das darstellerische Gehabe bei der nachfolgenden Probe zur Komödie in der Tragödie.

Paaren sich in Georg Kaisers Textbuch verspätete, überspannte Fin-de-Siècle-Tragödie und derbes Shakespearesches Gaukelspiel, so hat Iwan Goll in seinem Libretto zu Royal Palace mehr auf ein surrealistisch-synästhetisches Sinnlichkeitssammelsurium gesetzt. Äußere Handlung hier: Eine Frau wird umworben von einer dreifaltigen Männerschaft, die ihr aber zu ichbezogen erscheint ("Keiner hat mich erkannt, die Verdurstende am See, die Taube unter den Glocken"). Aus Protest geht sie ins Wasser.

Drei Lederfauteuils und eine Bar deuten eine Hotellobby an; auf der schwarzen Spiegelfläche der Bühnenwand zieht ein Strom von Erinnerungen, Wünschen, Traumbildern aller Art vorbei. Sogar die Akteure selbst werden zu Projektionsflächen; Schein und Sein, Traum und Raum verschmelzen. Störten beim Protagonisten noch inszenatorische Mätzchen wie quasi-improvisatorische Plapperpossen den Stückablauf, so gelang Brieger und seinem Team bei Royal Palace eine kongeniale, fantastische, staunenmachende Umsetzung des Werks.

Auch klingend (be)glückte der spätere Einakter mehr: Jakov Kreizberg brachte mithilfe der Wiener Symphoniker die suggestivkräftigen Klangflächen Weills zu silbrigem Schimmern. Die unerbittlich der Tragödie entgegenhüpfenden, tänzelnden Staccatostrecken des Protagonisten wären mit noch mehr Präzision, Pointiertheit und sarkastischer Schärfe zu zeichnen gewesen. Das Solistenensemble bot Solides: Roland Bracht, Martin Busen und Bernhard Landauer bewährten sich im Komödiantischen.

Peter Bording gab in beiden Einaktern einen feinen, parfümierten Galan mit ebensolchem Timbre. Gerhard Siegel suchte die Mörderpartie des Schwesternmörders mit großer Kraftanstrengung zu bewältigen. Catherine Naglestad gab die Schwester wie auch die dreifach Umworbene mit Sexyness und souveränem, leicht staubigem Sopran. Premierenfeier leider nicht beim Milchpilz, sondern auf der Werkstattbühne. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe, 23.6.2004)