Bei dem Vorhaben, die neu renovierte Mailänder Scala mit genau jenem Werk wiederzueröffnen, mit dem diese ehrwürdige italienische Opern- institution einst begann, ist Skepsis angebracht. Denn das Dramma per musica L'Europa riconosciuta (die anerkannte Europa) des 28-jährigen Wiener Hofkomponisten Antonio Salieri war - daran schien man sich bis heute einig - musikalisch ein Misserfolg.
Und doch nimmt einen nach wenigen Minuten Salieris packende Sturmouvertüre, bei der Königin Europa mit einem Schiff von der tiefen Hinterbühne kommt und strandet, sofort ein. Ohne Umschweife ist man mitten im Geschehen. Der Impuls freilich, Salieris Dramma neu zu sehen, scheint nicht zuletzt von der Großen Salieri-Ausstellung des Wiener Da-Ponte-Instituts, die seit einer Woche im Mailänder Palazzo Reale gezeigt wird, auszugehen. Dort erklärt man den Misserfolg von 1778 überzeugend damit, dass ein so prononciertes Reformwerk wie L'Europa riconosciuta die Mailänder Zuschauer vielleicht überfordert haben mag.
Eigentlich war ja der Opernreformer Willibald Gluck vorgesehen. Salieri war nur eingesprungen: Keine Bravourarien, sondern ambivalente Charaktere, die der Zuschauer beurteilen muss. Dramatische Konflikte statt Repräsentation. Auf die griechische Götterwelt wird verzichtet. Zeus, der ja Europa auf einem Stier entführt hat, wird nicht erwähnt. Europa ist bei Salieri in Kreta verheiratet und Mutter und kehrt nach dem Tod ihres Vaters in ihre Heimat zurück.
Zwei Koloratursopranen (Diana Damrau und Desiree Rancatore als ihre Schwester) sind in Mailand zwei weitere Frauenstimmen als deren Liebhaber zugesellt (Demia Kühlmeier und Stefania Barcelona). 1778 waren es zwei Kastraten. Der einzige Mann 2004 ist der finstere Ägisto (Guiseppe Sabbatini), der aus Europas Flucht Kapital schlagen will. Probleme der Staatsräson verhandeln also ausschließlich Frauen.
Barocker Ringeltanz
Dass man die Inszenierung zwei rivalisierenden Altmeistern des italienischen Musiktheaters, Luca Ronconi (Regie) und Piere Luigi Pizzi (Ausstattung), gemeinsam übertrug, scheint insbesondere Ronconi blockiert zu haben. Die bei Pizzi gewohnten großflächigen Räume, Treppen, Gitter und Statuen ermöglichen nur erstarrte lebende Bilder und Gesten im modernistisch-neoklassizistischen Kostümen. Fast peinlich der biedere barocke Ringeltanz, den Heinz Sporni choreografierte. Wohl 1778 als Abschluss, nun als Intermezzo gegeben.
Doch der Hauptakteur ist Salieris Musik. Wundersam, wie die schon immer betörende Akustik der Scala sich noch vertiefen ließ. Wie das große Orchester unter Riccardo Muti noch samtener in den Bläsern, noch pulsierender bei den Streichern klingen konnte. Trotz klassischen Stoffes nie langweilig, weich und dynamisch zugleich.
Eine Scala-Sternstunde der Primadonnen ist nicht zu vermelden. Aber das scheint ja im Sinn des neuen Musiktheaters Salieris gewesen zu sein. Alle Akteure kämpften sich anrührend und ehrbar durch ihre Partien. Der Chor, der bei Ronconi immer wieder sitzend als antiker Kommentator mit der Hebebühne nach oben gewuchtet wird, ist im Finale kostümiert als dreifache Reihe von Scala-Besuchern mit Smoking und Abendkleid, hereingeführt von den Saaldienern mit ihrer traditionellen Uniform.