Standard: Wie schief liegt die österreichische Bildungspolitik nach Pisa 2?

Jörg Haider: Der Bericht ist eine Chance, dass wir uns endlich breit und mit Tiefgang über den bildungspolitischen Kurs in Österreich unterhalten. Denn durch die bisherige Zweidrittelmehrheitsblockade waren Bildungsfragen für gestaltende Menschen nicht wirklich interessant.

Standard: Die SPÖ hat angeboten, auf die Sperre der Zweidrittelmehrheit zu verzichten.

Haider: Wenn die SPÖ das wirklich tun würde, sollte man als Erstes mit einem Verfassungsgesetz alle bestehenden Zweidrittelmehrheiten für Schulgesetze aufheben. Damit eröffnet man einer Reformdiskussion die Chance, mit einfachen Mehrheiten Veränderungen zu schaffen.

Standard: In Schulfragen tun sich ja ganz neue Koalitionen auf. Sie fordern wie SPÖ und Grüne die Gesamtschule. Für die ÖVP ein absolutes Reizwort. Warum sind sie dafür?

Haider: Die Kinder stecken in einer ideologischen Zwingburg, was die Bildung betrifft. Wir müssen uns die Realität anschauen: Seit Jahrzehnten sind die Lehrpläne von Hauptschule und Unterstufe der AHS harmonisiert, mit Ausnahme Latein. Wir müssen den Entscheidungsprozess, welchen bildungspolitischen Weg mit Berufsqualifikation ein Kind einschlägt, möglichst weit hinausschieben. Es wird ja nicht nur das Kind in diese Entscheidung sehr früh hineingedrängt. Auch die Eltern haben unterschiedliche Zugänge zur Bildung. Als Schulreferent habe ich gesehen, wie viele begabte Kinder in Berufsschulen sitzen, die dem höheren Bildungssystem verloren gehen, weil sie von vornherein auf eine Schiene geleitet werden: Du gehst in die Hauptschule, ins Poly und dann machst du eine Lehre.

Standard: Wie lange sollten die Kinder gemeinsam lernen?

Haider: Die Volksschule müsste auf alle Fälle auf eine fünfjährige Grundschule ausgedehnt werden. Entweder fünf Jahre Volksschule oder eine verpflichtende Vorschule im Kindergarten, was es ja schon einmal gegeben und sich bewährt hat. Die Grundschule sollte man wirklich primär zur Vermittlung der Kulturtechniken, inklusive des Anstandes und der klassischen humanistischen Tugenden verwenden. Derzeit sind die Kinder in dem Alter viel zu viel überfordert. Man macht zu viele Projekte und kommt nicht dazu, ihnen rechtzeitig das Alphabet und das Lesen beizubringen.

Standard: Die Pisa-Studie hat für Österreich erneut bestätigt, dass Kinder aus bildungsfernen Familien vom Schulsystem benachteiligt werden. Was tun?

Haider: Nach Jahrzehnten von Schulversuchen - weil wir uns nicht entscheiden konnten, einen Systemwechsel zu machen - stehen wir dort, wo wir begonnen haben. In Wirklichkeit hat sich an der Situation nichts geändert, dass es Kinder aus sozial schwächeren Schichten einfach schwerer haben, durchzustoßen in die bildungspolitische Spitze, auch wenn sie noch so begabt sind. Meine Eltern mussten einen Kredit aufnehmen, um mir und meiner Schwester eine höhere Bildung zu finanzieren. In vielen Fällen passiert das aber nicht. Chancengleichheit bedeutet, dass es wirkliche Durchlässigkeit des Schulsystems gibt und nicht allein von der inneren Einstellung einer Familie abhängig ist, ob ein Kind eine höhere Ausbildung machen kann.

Standard: Was werden Sie in Sachen Gesamtschule tun?

Haider: Ich möchte ein Bündnis für Zukunft und Jugend machen, in unserem Bundesland harmonisieren wir Hauptschule und AHS-Unterstufe einmal so weit wie möglich und versuchen de facto eine integrierte Schule zustande zu bringen. Wobei wir noch die Hürde haben, den Nachmittagsunterricht zu gewährleisten. Dazu muss das Landeslehrerdienstrecht geändert werden, weil ich die Lehrer ja verpflichten können muss, mehr als 21 Stunden in der Woche anwesend zu sein.

Standard: Sind Lehrer derzeit zu wenig in der Schule?

Haider: Es ist offenbar nicht der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit, und das ist schlecht. Das gibt es in keinem Land, das bei Pisa besser ist. Die haben alle längere Verpflichtungen.

Standard: Bei der Ganztagsschule mauert die ÖVP auch.

Haider: Aufgrund der Lebensverhältnisse der Menschen ist es zwingend, dass ein Angebot existiert. Die Eltern sollen ja nicht überfallsartig verpflichtet werden, ihre Kinder den ganzen Tag in die Schule zu schicken. Es soll im ersten Schritt freiwillig sein.

Standard: Sie nannten den Polytechnischen Lehrgang "Wurmfortsatz" ohne Bildungsziel. Heißt das, weg mit dieser Schulform?

Haider: Wir brauchen es nicht wirklich. Wenn die Volksschule auf fünf Jahre verlängert und das Poly eingespart wird, wäre das ein Nullsummenspiel. Das Poly hat die Schwäche, dass die berufskundliche Information und Vorbereitung ja nur in den seltensten Fällen wirklich geleistet wird. Das sollte fächerübergreifend in das Ausbildungssystem integriert werden.

(DER STANDARD-Printausgabe, 17.12.2004)