Hürden für den Kinderwunsch: "Sehr viele Betriebe ignorieren die Bedürfnisse von Familien", sagt Experte Wolfgang Mazal - und die staatliche Familienförderung sei "keinesfalls berühmt".

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Familienforscher Wolfgang Mazal kennt viel Gründe, warum es Österreich an Kindern fehlt.

STANDARD: Österreich zählt zu den reichsten Ländern der Welt, trotzdem trauen sich relativ wenige Menschen, Kinder zu kriegen. Warum ist das so?

Mazal: Auf der einen Seite sind es finanzielle und organisatorische Probleme, Familie und Beruf zu vereinbaren, auf der anderen spielen auch das Lebensgefühl und die Mentalität eine Rolle. In unserem gesellschaftlichen Klima wird die Realisierung des Kinderwunsches erst einmal aufgeschoben - und später oft auch aufgehoben.

STANDARD: Wieso dieses Zaudern?

Mazal: Weil jene Stabilität, die als Bedingung für Familiengründung empfunden wird, oft erst in späteren Lebensjahren erreichbar ist. Junge Menschen sind heute länger in Ausbildung, gleichzeitig beginnt das Erwerbsleben für viele - Stichwort Generation Praktikum - sehr herausfordernd. Leistbarer Wohnraum ist nicht ausreichend vorhanden, und oft fehlt auch noch der richtige Partner.

STANDARD: War es vor 50 Jahren denn leichter, den Traummann oder die Traumfrau zu finden?

Mazal: Durchaus. Angesicht der so vielfältigen Lebensentwürfe wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Vorstellungen zweier Menschen im richtigen Augenblick überschneiden, immer kleiner. Hat sich früher im Dorf oder Bezirk ein Paar gefunden, war das Matching relativ einfach. Heute sind die Menschen in der Ausbildungsphase oft in ganz Europa unterwegs, kommen aus völlig unterschiedlichen Familien.

STANDARD: Sind die Menschen nicht auch egoistischer geworden?

Mazal: Das würde ich nicht sagen. Wer Kinder bekommt, ist ja nicht per se weniger egoistisch. Oft geht es Eltern ja auch darum, ihre Identität und Traditionen fortleben zu lassen, und bis vor wenigen Generationen war es schlichtweg notwendig, Kinder in die Welt zu setzen, um für das eigene Alter vorzusorgen. Das war, wenn man so will, auch egoistisch, ist aber nicht mit selbstsüchtig gleichzusetzen.

STANDARD: Und aus dem Später wird dann oft ein Niemals?

Mazal: Ja. Laut jüngsten Studien haben nur 40 Prozent jener Menschen, die innerhalb von drei Jahren ihren Kinderwunsch realisieren wollten und geeignete Partner hatten, ihren Vorsatz eingelöst. Das Signal, das unsere Gesellschaft insgesamt aussendet, lautet: Kinder bedeuten Nachteile.

STANDARD: Was kann die Politik dagegen machen?

Mazal: Wenig. Laut einer Untersuchung der Akademie der Wissenschaften kann die Politik nur etwa sechs bis zehn Prozent der Faktoren direkt beeinflussen. Einige Hebel hat sie aber in der Hand: Familiengründung nicht zum finanziellen Nachteil werden lassen, die Kinderbetreuung sinnvoll gestalten.

STANDARD: Letztere hat hierzulande immer noch viele Lücken. Ist es nicht grundfalsch, dass der Staat das Gros der Familienförderung für Geldleistungen ausgibt?

Mazal: Tatsächlich gibt Österreich zu wenig für Sachleistungen aus, doch der Ausbau darf nicht auf Kosten der Geldleistungen gehen. Denn in Summe ist das Niveau der Familienförderung keinesfalls berühmt, im OECD-Vergleich liegen wir in etwa an 14. oder 16. Stelle.

STANDARD: In Sparzeiten muss man aber Prioritäten setzen. Die Regierung jedoch buttert erst recht wieder mehr Geld in die Familienbeihilfe als in die Kinderbetreuung.

Mazal: Das ist klar, weil die Familienbehilfe ein Massenphänomen ist. Außerdem wurde diese Leistung über viele Jahre nicht an die Inflation angepasst, also de facto entwertet. Es ist kein sensationeller, aber achtbarer Schritt der Regierung, hier trotz Sparkurses zusätzliche Gelder auszuschütten.

STANDARD: Wäre mehr Kinderbetreuung nicht die viel bessere Absicherung, weil Eltern dank Arbeit auf eigenen Beinen stehen können?

Mazal: Wenn Eltern zwangsläufig Vollzeit arbeiten müsse, um der Armut zu entgehen, würde das erst recht viele demotivieren, eine Familie zu gründen. Es gibt achtbare Gründe, nicht in den Vollerwerb zu gehen, nämlich Zeit den Kindern zu widmen. Da sollten wir den Menschen die Entscheidung überlassen. Der geplante Ausbau der Kinderbetreuung stellt ohnehin einen gigantischen Sprung dar, wie es ihn noch nie gab - man kann das Angebot nicht plötzlich ver-x-fachen. Außerdem gibt es noch ein anderes Problem der Vereinbarkeit: die befürchtete Benachteiligung im Beruf.

STANDARD: Eine begründete Angst?

Mazal: Ja. Manche Arbeitgeber fragen schon bei Bewerbungsgesprächen nach, ob vielleicht ein Kind unterwegs ist. Lautet die Antwort ja, kommt die übliche verbrämte Absage: "Sie werden von uns hören." Wer den Wunsch äußert, aus familiären Gründen einmal keine Überstunden, wie sie in Österreich ein Ausmaß von mehreren Hundert Millionen im Jahr annehmen, zu machen, stößt oft auf taube Ohren. Sehr viele Betriebe ignorieren die Bedürfnisse von Familien.

STANDARD: Warum sollten sie das aus unternehmerischer Sicht tun, wenn sich auch Mitarbeiter ohne solche Ansprüche finden lassen?

Mazal: Weil Unternehmen aus familienfreundlichen Arbeitsbedingungen enorme betriebswirtschaftliche Vorteile ziehen können. Sie sind dann sehr attraktive Arbeitgeber, die aus einem um etwa 26 Prozent höheren Bewerberpool für offene Stellen schöpfen können, eine viel geringere Personalfluktuation haben, daher auch eine um zwölf Prozent höhere Kundenbindung aufbauen können. Die Fehlzeiten der Mitarbeiter sind dafür deutlich geringer. Das alles sind klare, empirisch untermauerte Erkenntnisse, die aber bei vielen Unternehmern erst noch sickern müssen. Gerade junge Männer, von denen sich immer mehr an der Kindererziehung beteiligen wollen, bekommen noch viel zu wenig Rückhalt von Vorgesetzten und Kollegen.

STANDARD: Ein großes Problem für Eltern sind kranke Kinder. Da gibt es gerade fünf Pflegetage im Jahr.

Mazal: In Wahrheit können es bei Bedarf viel mehr sein. Der Gesetzgeber hat großzügigere Regelungen geschaffen als diese eine Woche Pflegefreistellung, die sich in der Praxis herumgesprochen hat. Seit Jahrzehnten ist etwa bei Angestellten ausjudiziert: Pro Anlassfall können Vater oder Mutter drei, vier Tage zu Hause bleiben.

STANDARD: Ist die Situation in anderen Ländern besser?

Mazal: Ja, je höher man in den Norden geht, desto geringer sind die Sorgen. In Norwegen - und das ist einzigartig - erwarten sich die Menschen vom Kinderkriegen sogar einen gesellschaftlichen und finanziellen Vorteil. Dort gibt es eine extrem kleinteilige Struktur, die bei der Kinderbetreuung in aller Vielfalt hilft. Wenn Eltern zum Beispiel zum Arzt müssen, können sie bei der Gemeinde anrufen und nach einem Babysitter fragen.

STANDARD: Und die Skandinavier gehen um 17 Uhr nach Hause?

Mazal: In den nordischen Ländern gib es über weite Strecken tatsächlich eine andere Arbeitszeitkultur. So gilt es etwa als unfein, nach 15 Uhr wichtige Meetings anzusetzen. In Österreich ist es eher umgekehrt: Da muss der Einberufer fürchten, als nicht wichtig genug zu gelten, wenn er das Treffen zu zeitig ansetzt. (Gerald John, Peter Mayr, DER STANDARD, 30.5.2014)