"Anstatt über Lücken im Kinderschutz zu reden, diskutieren wir, wie unsere Autos wieder schlaglochfrei fahren können", ärgert sich die deutsche Kinder- und Jugendschutzexpertin Kathinka Beckmann.

Foto: Hochschule Koblenz

derStandard.at: Kürzlich haben Sie gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt eine Auswertung der deutschen Kriminalstatistik aus dem vergangenen Jahr präsentiert. Die Zahlen sind ernüchternd: Jede Woche starben drei Kinder durch Gewalt und Vernachlässigung. Wird Gewalt an Kindern zu wenig wahrgenommen?

Beckmann: Das lässt sich nicht schönreden, auch wenn die Opferzahl im Zehnjahresvergleich zurückging: 2004 gab es in Deutschland 233 getötete Kinder, jetzt 153. Insofern geht es schon hinunter, aber das Niveau ist nach wie vor wahnsinnig hoch. Das hat aber auch damit zu tun, dass heute genauer hingesehen wird.

derStandard.at: Laut Polizei sinkt zwar die Zahl der Todesopfer, gleichzeitig steigt die Zahl der körperlichen Misshandlungen. Gibt es dafür eine Erklärung?

Beckmann: Ich finde, es ist auch sehr viel greifbarer, das auf Tage umzurechnen. Da haben Sie zum Beispiel bei den Misshandlungen 78 Kinder pro Woche, bei denen ein Arzt die Diagnose "Misshandlung" stellt. Im Vorjahr waren es "nur" 70.

derStandard.at: Wie groß ist die Dunkelziffer?

Beckmann: Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann ging im Jahr 2006 davon aus, dass in Deutschland 80.000 Kinder tagtäglich um ihre Gesundheit oder gar ihr Leben kämpfen.

derStandard.at: Sind die Täter ausschließlich Männer?

Beckmann: Nein, bei den getöteten Kleinstkindern sind es viele Mütter, welche die Säuglinge ersticken oder verhungern lassen.

derStandard.at: Es gibt also einen Geschlechterunterschied bei Gewalt an Kindern?

Beckmann: Frauen und Männer misshandeln anders. Männer schlagen, treten, verbrennen. Frauen setzen perfidere Strafen, etwa abends in eiskaltes Badewasser setzen oder im Keller einsperren. Das ist alles natürlich zu verurteilen.

derStandard.at: Also der perverse Fremde ist es eher nie. Sind in diesem Punkt die Sorgen ein bisschen übertrieben?

Beckmann: Natürlich gibt es auch den missbrauchenden, mordenden Fremden. Aber wenn Sie sich die Zahlen ansehen, ist der die Minderheit.

derStandard.at: Ihre Zahlen beziehen sich auf Deutschland. Aber auch in Österreich zeigte eine Befragung aus dem Jahr 2009, dass fast die Hälfte der Österreicher mit Ohrfeigen "erziehen". In Deutschland waren es mit 43 Prozent nicht viel weniger. Der Klaps auf den Po gilt immer noch als harmlos. Und das, obwohl es seit Jahren ein absolutes Gewaltverbot in der Erziehung gibt. Wirkt ein solches Gesetz nicht?

Beckmann: Ja, das ist wirklich erschreckend. Zumal es rechtlich ganz klar verboten ist. Nur ist das offenbar nicht angekommen. Ganz deutlich gesagt: Auch ein Klaps ist absolut zu viel.

derStandard.at: Die Statistik besagt, dass Neugeborene und ganz kleine Kinder am meisten gefährdet sind. Sind Eltern in dieser Phase besonders überfordert?

Beckmann: Aus pädagogischer Sicht ist ganz klar: Gewalt wird meist aus Überforderungssituationen heraus angewandt. Davon besonders betroffen sind ganz junge Eltern und Alleinerziehende, bei diesen sind solche Überforderungssituationen extrem häufig.

derStandard.at: Gibt es bei der Ausübung von Gewalt an Kindern Unterschiede danach, ob die Familien reich oder arm, ob mit oder ohne Migrationshintergrund sind?

Beckmann: Nein, bei Menschen mit Migrationshintergrund ist es nur ein Problem, wenn es Anpassungsschwierigkeiten gibt. Punkto Schicht gilt: Auch bei Akademikereltern ist Gewalt in der Erziehung im Spiel. Diese Familien tauchen nur nicht beim Jugendamt auf, sondern suchen sich entweder anderswo Hilfe oder eben gar keine. Ein ganz großer Risikofaktor ist Sucht. Ein weiterer wesentlicher Indikator ist, wenn jene Personen, die jetzt Eltern sind, früher selbst Gewalt in der Erziehung erlebt haben.

derStandard.at: Wie kann Letzteren geholfen werden?

Beckmann: Es ist ganz wichtig, mit Kindern, die selbst geschlagen wurden, zu arbeiten, damit sie eine Idee bekommen, dass die Gewalt, die sie erlebt haben, nicht in Ordnung oder normal war, dass es anders laufen sollte.

derStandard.at: Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité, Michael Tsokos, sagt: "Von der Familie geht die größte Gefahr für die Kinder aus." Das klingt nach einer Bankrotterklärung der Institution Familie.

Beckmann: Das Elternhaus war immer eine Gefahrenquelle. Es wäre auch naiv zu glauben, dass irgendwann absolute Gewaltfreiheit in den Familien herrscht. Es gibt immer wieder überforderte oder einfach nur ganz furchtbar schreckliche Eltern.

derStandard.at: Muss der Staat mehr in die Familien schauen?

Beckmann: Nein. Wir sollten nur dringend unser vorhandenes gesetzliches Instrumentarium ausschöpfen. Aber schauen Sie sich als Beispiel die Situation in Deutschland an: Von den insgesamt 740.000 Pädagogen innerhalb der Jugendhilfe arbeiten nur 35.000 in den Jugendämtern. Und davon sind nur 8.000 Entscheidungsträger im Kinderschutz. Gleichzeitig gibt es eine massive Fallzahlentwicklung, vor zwei Jahren wurde die Millionenmarke durchbrochen. Dadurch, dass die Städte finanziell unterschiedlich aufgestellt sind, ist auch der Personalstand in den Jugendämtern höchst unterschiedlich. An einem Ort betreut ein Mitarbeiter 30 Familien, anderswo sind es 160. Das geht gar nicht.

derStandard.at: Das heißt, auch der Wohnort entscheidet über die staatliche Hilfe für misshandelte Kinder?

Beckmann: Darauf kann man es leider herunterbrechen.

derStandard.at: Wieso ist der Staat so zurückhaltend?

Beckmann: Sie müssen das historisch betrachten. Im Nationalsozialismus hat der Staat massiv Erziehungsaufgaben übernommen. Deutschland war daher nach 1945 sehr bemüht, nicht mehr einzugreifen. Erziehung war erstmals Elternsache. Das ist in vielen Ländern ganz anders. In Großbritannien heißt es seit langem: Kinderschutz geht vor Datenschutz, und Kinderrechte sind mindestens so viel wert wie Elternrechte. Bei uns ist das nicht so. Es mehren sich aber die Stimmen, die sagen: Wir brauchen ein gleichwertiges Kinderrecht gegenüber dem Elternrecht.

derStandard.at: Wie kann Familien geholfen werden?

Beckmann: Die Eltern müssen möglichst viel Unterstützung bekommen. Und sie müssen vor allem wissen, wo sie sich diese holen können. Gerade das erste Jahr, in dem die Kinder sich alle drei Stunden melden, in dem kein ruhiger Schlaf möglich ist, ist eine Zeit, wo man Unterstützungsangebote auch gerne annimmt. Nur sind Eltern eher bereit, Hilfe von Hebammen oder Schreiambulanzen in Anspruch zu nehmen, und nicht so sehr, wenn das Etikett Jugendamt draufsteht.

derStandard.at: Das wird als stigmatisierend empfunden?

Beckmann: Ja. Die meisten Eltern denken noch immer, dass sie dort eher kontrolliert werden, als Unterstützung zu erfahren. Hier sind die Berührungsängste noch viel zu groß.

derStandard.at: Haben nicht auch die Kinder zu wenig Stellenwert in der Gesellschaft?

Beckmann: Natürlich. Wir sind noch weit entfernt von einer kinderfreundlichen oder kinderbewussten Gesellschaft. Das müsste ja bei jeder politischen Entscheidung mitschwingen. Gesamtgesellschaftlich steht in Deutschland gerade die Fußballweltmeisterschaft im Fokus, davor waren es die maroden Brücken und Straßen. Anstatt über Lücken im Kinderschutz zu reden, diskutieren wir, wie unsere Autos wieder schlaglochfrei fahren können. (Peter Mayr, derStandard.at, 20.6.2014)