"Das Burgtheater ist keine freie Gruppe von fünf, acht Leuten."

STANDARD: Mit "Das weite Land" gehen Sie als Regisseur in Reichenau einen weiteren Schritt in die Vereisungszonen der bürgerlichen Kultur hinein. Schnitzler wird nicht so häufig gespielt, wie man annehmen müsste. Wie kommentierungsbedürftig sind seine bürgerlichen Sittendramen heute?

Hermann Beil: Ich glaube schon, dass "Das weite Land" sich sehr unmittelbar erschließt. Ich frage mich, ob Sie dieselbe Frage bei Tschechow-Stücken auch stellen würden?

STANDARD: Antwort: Der wird sehr viel häufiger gespielt.

Beil: Der Grund der Häufigkeit liegt sicher darin, dass die Tschechow-Stücke eben keines großen Kommentars bedürfen. Weil in ihnen Themen verhandelt werden, die man für sich begreift. Das ist im "Weiten Land" aber nicht anders. Liebe und Lüge, Treue und Verrat waren vor 100 Jahren ebenso ein Thema wie heute. Das Problem, ob eine Ehe nur noch eine Fassade ist, die aber heftigst aufrechterhalten wird, um dann umso krachender zusammenzustürzen, das ist eine Konstellation, die unserer heutigen Gesellschaft bestimmt nicht fremd ist.

STANDARD: Klaffen im "Weiten Land" nicht einfach die Begehrlichkeiten, die die Figuren umtreiben, und die Konventionen weiter auseinander als in anderen Schnitzler-Stücken?

Beil: Im Gegenteil, hier fallen sie unmittelbar miteinander zusammen. Das Verhalten von Figuren wie dem Glühbirnenfabrikanten Hofreiter changiert doch ständig. Ist eine größere Gesellschaft da, wird die Fassade aufrechterhalten. Man tut so, als ob man sich glänzend zu benehmen weiß. Sobald es ein intimes Gespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit gibt, geht es brutal und hart zu. Hofreiter sagt zu seiner Frau: "Ich muss jetzt allein sein, muss ins Gebirge. Du bist der Grund, warum ich weggehe!" Sowie jedoch andere dabei sind, sagt er: "Ja, Genia, willst nicht mitkommen?"

STANDARD: Man hat die Egozentrik Hofreiters kindlich oder infantil genannt. Ist da etwas dran?

Beil: Das glaube ich überhaupt nicht. Er ist spielerisch. Die Erna Wahl, die vielleicht emanzipierteste Figur des ganzen Stückes, benennt es: Hofreiter nimmt sich von den Menschen, was er braucht. Er zieht die Menschen als Klavierspieler heran, als Tennispartnerinnen - oder als Sekundanten, wenn es notwendig ist. Ein Virtuose im Umgang mit den Gefühlen anderer Menschen.

STANDARD: Warum nun wird Tschechow häufig, Schnitzler aber deutlich weniger gespielt?

Beil: Es war meine Erfahrung mit der letztjährigen Inszenierung von "Der einsame Weg": Schnitzler-Stücke sind tolle Partituren, die man im "Musizieren" entdeckt. Beim Probieren gewahrt man die feinen Verästelungen, die motivische Komposition: Wenn man im dritten Akt zum Beispiel ein alpenländisches Scherzo hat. Das ging mir erst unlängst auf, als ich in Wien durch die Innere Stadt lief und mir einfiel: Ich gehe durch eine Stadt, in der diese Schnitzler-Figuren - die ja nicht abstrakt erfunden sind, sondern die Abbilder der damaligen Gesellschaft darstellen - auch alle herumgegangen sind. Bei Tschechow kann man sagen, das ist das ferne Russland. Bei Schnitzler muss man sagen: Das ist das nahe Wien. Reichenau ist auch eine Schnitzler-Gegend. Wir würden hier sofort eine Person finden, von der sich sagen ließe: Die Dame spricht wie Frau Wahl.

STANDARD: Sprechen die Leute heute wirklich noch so?

Beil: Das glaube ich schon. Zumindest in meiner Burgtheater-Zeit bin ich in Gesellschaften geraten, von denen sich sagen ließ, es seien Schnitzler-Gesellschaften. Natürlich mit heutigem Habitus, aber so, dass man denkt: Das ist ja wie früher. Mir ist noch etwas anderes während der Proben aufgegangen. Weil doch jetzt pausenlos in allen Zeitungen über 1914 geschrieben wird: Für mich bildet "Das weite Land" die Kehrseite. Hochtrabend gesagt, ist es das Stück der Stunde. Es spielt 1911, war damals ein absolutes Gegenwartsstück, drei Jahre vor Kriegsausbruch. Wir sehen eine fröhliche Gesellschaft, die so tut, als ob ihr Glück nie zu Ende ginge. Im fünften Akt ist das Leben jeder Figur ruiniert. Die Sprache wird plötzlich hart und knapp. Sie vereist, sodass fast ein Beckett draus wird. Schnitzler hat den Zusammenbruch unbewusst geahnt.

STANDARD: Frank Baumbauer hat einmal gesagt: Wenn die Burg ruft, kommt man. Um Sie als Mitglied der Findungskommission, die einen neuen Direktor sucht, anzusprechen: Ist das Burgtheater in seiner aktuellen Lage eine Braut, die man schönschminken muss?

Beil: Nein, die jetzige Situation ist der Bedeutung des Burgtheaters angemessen. Wenn schon eine katastrophale Situation, dann eine richtige Katastrophe! Welches Theater besitzt eine solche Wahnsinnsgeschichte, welches Schauspielhaus im deutschsprachigen Raum hat so eine Funktion innerhalb einer Stadt, eines Landes? Vielleicht, dass die Realität des Burgtheaters in Zukunft eine gewisse Normalität haben wird. Man wird eben nicht alles bedenkenlos machen können. Man kann mit Fantasie alles auf die Bühne bringen. Wenn einem Theater materielle Grenzen gesetzt sind, so ist das nicht schlecht. Wenn ich in der Zeitung lese, dass ein Beamer um 300.000 Euro eingekauft wird, dann ist das nur gedankenlos. Von den Machern. Ich bin zuversichtlich, dass sich so etwas in der Zukunft nicht mehr abspielen wird.

STANDARD: Plädieren Sie für Routine oder für etwas erfrischend Neues?

Beil: Ich plädiere für die richtige Lösung.

STANDARD: Die wäre?

Beil: Sie muss überzeugen. Theatererfahrung ist einfach notwendig. Das Burgtheater ist keine freie Gruppe von fünf, acht Leuten, die auf die Pauke hauen.

STANDARD: Kein Räuberhauptmann?

Beil: Der Räuberhauptmann, die Räuberhauptfrau ist immer gut, wenn er oder sie ein guter Räuberhauptmann ist und Herz, Fantasie und Sachverstand besitzt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 1.7.2014)