Marlis Petersen als Traviata

Foto: kmetitsch

Wien - Die Party ist vorbei - das ist von Anfang an zu spüren. Die Champagnergläser sind leer, aber wahrhaben will das niemand. Ja, das ist ein Markenzeichen von Peter Konwitschny, und ja, seine Handschrift ist ebenso deutlich wie jene seines Ausstatters Johannes Leiacker: Auf der Bühne gibt es fast nichts, bis auf riesige Vorhänge, die aus demselben Stoff sind wie das Kleid von Violetta Valéry. Sie werden zum Symbol für den Willen, die Illusion aufrechtzuerhalten - so wie die vergilbten Bücher des Alfredo Germont eine hilflose Gegenwelt bilden.

2011 war die Produktion erstmals in Graz zu sehen. Und obwohl sie im Kern noch dieselbe ist, wirkt sie in vielen Details völlig neu. Das spricht ebenso für Konwitschnys Meisterschaft wie seine ständige Nähe zum Stück: zum Text, den er geradezu schlafwandlerisch ausdeutet, aber vor allem zur Musik, die er zumindest ebenso stark mitinterpretiert und geradezu szenisch mitgestaltet wie die Dirigentin Sian Edwards.

Tolles RSO-Wien

Dass das ORF Radio-Symphonieorchester Wien derzeit wieder kulturpolitisch in Unruhe versetzt wurde, war kaum zu spüren - es sei denn durch jene Dringlichkeit und Intensität, die es einbrachte, auch trotz und jenseits des über weite Strecken nur gediegenen Dirigats. Auch als Opernorchester ist das RSO inzwischen unentbehrlich - auch wenn jemand anderer am Pult vielleicht Verdis extreme Dynamik noch mehr hervorgestrichen hätte. An der Sesselkante spielten die Musiker aber dennoch, voller Funken und Feuer. Und eine Grenzerfahrung war auch die Szene, noch mehr als vor drei Jahren: Marlis Petersen, als Violetta schon in Graz dabei, ist nochmals über sich hinausgewachsen.

Souveräne Sängerin

Die Souveränität, mit der sie über die Partie gebietet, ist bloß der Ausgangspunkt für Höhenflüge expressiver und darstellerischer Natur. Beides wird allerdings kaum als solches greifbar, so sehr ist die Sängerin mit der Rolle verschmolzen. Wenn sie stürzt oder in sich zusammensackt, sind Spiel und Gesang ebenso eins wie dort, wo sie sich ihrem Schicksal mit Wut oder Traumbildern entgegenstemmt. Jenseits der Klischees auch ihre Partner: Arturo Chacón-Cruz leidet und freut sich als Alfredo mit kindlicher Kraft, flieht auch vokal alle Äußerlichkeit.

Als sein Vater Giorgio Germont gibt sich Roberto Frontali als zynischer Brutalo zu erkennen, der Violetta mit aufgesetztem Pathos um den Finger wickeln will. Das ist nur eine der überraschenden Wendungen, die Konwitschny in seiner manchmal verstörenden, doch stets zwingenden Deutung freilegt. Wer sich dem öffnet, den trifft das mitten ins Herz. (Daniel Ender, DER STANDARD, 3.7.2014)