Kurze Liebschaft in schrecklichen Zeiten: Marianne Crebassa (als Charlotte Kann) und Frédéric Antoun (als Amadeus Daberlohn).

Foto: Ruth Walz

Salzburg - In einer Friedensepoche wäre sie wohl zu einer Künstlerin von farbsatter Expressivität herangereift - aber das bleibt Spekulation. Die Berliner Jüdin Charlotte Salomon (1917-1943) wurde in Auschwitz ermordet. Dass über ihre biografische Entwicklung Mutmaßungen möglich sind, verdankt man allerdings doch ihr selbst. Aus Deutschland vertrieben, emigriert sie nach Villefranche-sur-Mer bei Nizza, wo sie mit den Großeltern lebt und zu gestalten beginnt. Es entsteht Leben? Oder Theater?.

Dabei handelt es sich um (in knapp eineinhalbjähriger Arbeit geschaffene) Gouachen, also an die 800 Bilder mit beigefügten Texten und musikalischen Andeutungen. Sie sind als künstlerische Selbstsuche zu verstehen: Salomon erzählt darin (teils in fiktiver Färbung) die Geschichte ihrer Familie. Und: In der Felsenreitschule sieht man gleich zu Beginn diese Künstlerin am Bühnenrand malen und erzählen, während die Familienmitglieder den Schauplatz betreten: der Vater, dessen Frau Selbstmord beging. Der Großvater und die Großmutter, welche in Frankreich ebenfalls den Suizid wählen wird. Die Stiefmutter und Sängerin Paulinka Bimbam (glänzend Anaik Morel), für die Charlotte gleichermaßen Sympathien hegt wie für Gesangslehrer Amadeus Daberlohn (intensiv Frederic Antoun).

In Leben? Oder Theater? gibt Salomon den realen Figuren Fantasienamen und nimmt sich davon nicht aus - sie wird zu Charlotte Kann. So nutzt die Oper von Marc-André Dalbavie, ein Auftragswerk der Salzburger Festspiele, auch die Möglichkeit, der erzählenden, malenden Künstlerin (von delikater Klarheit Johanna Wokalek) auch eine singende Charlotte gegenüberzustellen. Während Wokalek spricht, singt die grandiose Marianne Crebassa (als Charlotte Kann) anfangs eine unschuldige Melodie, welche von den Figuren aufgegriffen wird und zu einem Kanon wächst, den das Mozarteum-Orchester schließlich durch heftigen Ausbruch beendet.

Die Verdopplung der Hauptfigur stellt einen besonderen Reiz dar: Die Oper führt die Hauptprotagonistinnen mitunter zueinander; für die sprechende Salomon wird die Szenerie somit zur begehbaren Biografie. Und mitunter scheinen Wokalek und Crebassa regelrecht zu einer Figur zu verschmelzen. Für die Innenspannung des Werkes entscheidend ist aber neben den projizierten Bildern aus Salomons Werk die Regie von Luc Bondy. Er setzt auf mehrere simultan ablaufende Szenen. Die Protagonisten sind auf der breiten Bühne nahezu unentwegt präsent, wodurch eine Art szenische Fuge entsteht, die dem Erzählfluss hilft. Nur die derben Auftritte der uniformierten Nazis wirken etwas plakativ.

Elegante Kantilenen

Bondys Ansatz ist insofern essenziell, als sich das Libretto (Barbara Honigmann, nach Leben? oder Theater?) mitunter in Seitengeschichten zu verlieren droht und die episodenhafte Form aus sich heraus nur bedingt szenische Energie freisetzt. Die Hauptfigur drohte bisweilen verlorenzugehen, würde Bondy nicht gestisch präzise mit der Dauerpräsenz der Doppelfigur spielen.

Zudem ist Dalbavies Musik nicht auf Bewegtheit angelegt. Unter den eleganten Kantilenen, die er schreibt, regiert lange die Atmosphäre einer Klanginstallation. Sie kann sich in Einzeltönen ausdrücken oder in tonal ambivalenten Akkorden, die mit flatternden Patterns fusionieren. Und obwohl heftige kollektive Rufzeichen für Dramatik sorgen, dominiert ein orchestrales Innehalten - ein abstrakter zitatenfreudiger Neoimpressionismus.

Dass dabei die Habanera aus Carmen erklingt, dass Webers Freischütz, Mahler, jüdische Folklore und Schlager eingesetzt werden, hat mit Salomons musikalischen Hinweisen zu tun und ist somit jederzeit legitim. Zum einen verweisen die Zitate ja auf Salomons Seelenwelt. Zum anderen betreibt Dalbavie mit Originalen auch ein delikates Verfremdungsspiel. Allerdings vermag er den Eindruck nicht wegzukomponieren, dass (auf Basis dieses Librettos) Details sehr gelungen sind, das Ganze jedoch ein paar energetische Leerstellen aufweist.

Auch sie allerdings sind von jener melancholischen Stimmung, die Salomon durchdrungen haben mag - dank eines sehr guten Ensembles und des Orchesters, das der schließlich bejubelte Komponist sachlich dirigierte. (Ljubisa Tosic, DER STANDARD, 30.7.2014)