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In der Untergrundbahn von Chicago, im Begriff, die Untaten des Großvaters zu sühnen: Claire Haber (Jenny König).

Foto: APA/BARBARA GINDL

Hallein - Katie Mitchells Kameraauge bleibt nichts verborgen. In Wahrheit ist die britische Regisseurin ein Spross des von Göttermutter Hera in Dienst gestellten Riesen Argus. Diese mythologische Figur besaß nicht weniger als hundert Augen. Mitchell, die im deutschen Sprachraum zurzeit als Nonplusultra technikgestützter Erzählkunst herumgereicht wird, gibt es billiger. Sie begnügt sich mit läppischen fünf.

The Forbidden Zone, im Auftrag der Festspiele auf der Perner-Insel uraufgeführt, ist eine Apotheose der Apparatur. Mitchells Theater sieht alles. Sieben Spielorte werden von den neugierigen Kameraaugen reihum abgegrast.

Kaum ein Schauplatz ist größer als ein gewöhnliches Zimmer. Die Ausnahme bildet ein U-Bahn-Wagon, den man in Segmente geschnitten hat. Das Vehikel wird wie von Zauberhänden bewegt. Mitchells Theater frönt mit hartnäckiger Ausdauer der Untugend des Voyeurismus. Szenen werden vor "täuschend echten" Kulissen behäbig geschnitten und im Moment der Entstehung auf einen Screen projiziert (Video: Finn Ross, Bildregie: Leo Warner).

Das bevorzugte Transportmittel für Mitchells Schaulust sind Close-ups. Darsteller der Schaubühne Berlin - sie zeichnet als Koproduzentin der Schmonzette - wurden wohl noch niemals derart porentief auf ihre Eignung als Leinwandhelden hin geprüft.

Mitchell und ihr Skriptschreiber Duncan Macmillan schützen darüber hinaus tief lotende Erzählinteressen vor. Zur rechten Hand, im wilhelminischen Herrenzimmer, wohnt das rechtschaffene Chemikerehepaar Haber. Der historisch verbürgte Fritz Haber (Felix Römer) entwickelt das Chlorgas. In dessen gelbe Schwaden taumelten die Soldaten der Entente 1915 hinein - ein Fanal in der Geschichte moderner technischer Kriegsführung. Ein grauenhafter Vorgriff auch auf ein Vernichtungsgeschehen, das in den Gaskammern der Nationalsozialisten kulminieren sollte.

Trost sucht der Vernichtungschemiker und Hurra-Patriot bei Schubert-Musik. Seine Gemahlin Clara Immerwahr (Ruth Marie Kröger) kann die Ausbeutung der Wissenschaft für Vernichtungszwecke nicht verwinden. Sie übt mimische Renitenz. Weil Mitchell und Bühnenbildnerin Lizzi Clachan dem Haber'schen Anwesen einen wunderschönen Hof angebaut haben, eine Wohlfühloase mit Efeu und Brunnen, wird Immerwahr im Freien die Pistole gegen ihren Oberkörper richten. Ihr trotz Schusswaffe bemerkenswert stiller Heldinnentod, von der Regie als typisch weibliche Gewissensentscheidung herausgestellt, atmet den herben Geruch von Kitsch und Kunsthandwerk.

Viele, viele U-Bahn-Fahrten

Die zwei anderen, simultan erzählten Geschichten wird man in Anbetracht der mageren Fabel als lose miteinander verknüpft bezeichnen dürfen. Immerwahrs Enkelin Claire (Jenny König) arbeitet in Chicago in einem Labor. Rund 30 Jahre sind vergangen. Krieg ist für Frauen weiterhin die "verbotene Zone". Claire muss, um das geistige Erbe des Chemie-Opas zu sühnen und ihrerseits Selbstmord zu begehen, sehr viel U-Bahn fahren. In der Untergrundbahn von Chicago lief man als Frau in jenen Jahren offenbar auch Gefahr, von Soldaten mit Vergewaltigung bedroht zu werden.

Aus unerfindlichen Gründen speist sich die Fantasie ungezählter Theaterregisseure aus dem Film. Aus den eingesprochenen Versen und Zeilen pazifistischer Autorinnen (Mary Borden, Virginia Woolf, Hannah Arendt ...) geht mehr hervor als aus jeder einzelnen Filmsequenz. So entstehen Szenen bloß, um als Augenweiden abgegrast zu werden. Eine Art Kapitulationserklärung, vom Publikum dankbar angenommen. Aber wer wollte in Anbetracht des Themas nicht pazifistisch sein? (Ronald Pohl, DER STANDARD, 1.8.2014)