"Im Moment warten wir auf die Syrer. Aber es dauert, bis die Leute kommen und Hemayat finden. Teilweise arbeiten wir dann Jahre später die Kriegsfolgen auf", sagt die klinische Psychologin Cecilia Heiss.

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Der Schrecken gezeichnet: Bild einer neunjährigen Tschetschenin beim Warten auf die Mutter, die gerade in einer Therapiesitzung war.

STANDARD: Die Länder erfüllen die Quoten nicht, das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen platzt aus allen Nähten. Kann so ein Lager der richtige Ort für Menschen sein, die Flucht und Vertreibung erfahren haben und oft traumatisiert sind?

Heiss: Die Grundidee der Erstaufnahmezentren war ja, dass sich die Menschen dort nur sehr kurz aufhalten. Die Realität ist dann leider oft anders. Für traumatisierte Menschen gilt generell, dass neben einer psychotherapeutischen Traumabehandlung ein geregelter Tagesablauf enorm wichtig ist. In Wahrheit müssen sie dann in vielen Quartieren herumsitzen - und das für lange Zeit. Sie können nicht arbeiten und keiner Beschäftigung nachgehen. Das ist für traumatisierte Menschen noch viel schwieriger, als es für uns wäre.

STANDARD: Was wäre eine angemessene Art der Unterbringung?

Heiss: Es geht bei traumatisierten Menschen vor allem um eine gute, individuelle Betreuung. Pensionen in der Einöde sind oft auch problematisch, weil es dort schwer ist, Deutschkurse oder eine Traumatherapie zu bekommen.

STANDARD: Die Unterkunft ist aber nicht ...

Heiss: ... das einzige Problem. Wichtig ist vor allem, wie den traumatisierten Menschen begegnet wird. Glaubt man beispielsweise einer Frau, dass sie vergewaltigt wurde, oder nicht. Für die Verarbeitung eines Traumas ist die Anerkennung sehr wichtig. Sonst erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Folgeerkrankung. Enorm problematisch finde ich die Form der Befragungen durch die Behörden. Hier wird aufgrund der Art, wie Flüchtlingen begegnet wird, oft eine erneute Krise ausgelöst.

STANDARD: Die Beamten agieren also falsch?

Heiss: Die Beamten werden im Stich gelassen. Sie sind meist ungeschult, überfordert und erkennen oft die Symptomatik gar nicht. Da heißt es dann: Unglaubwürdig, weil es nicht mit dem entsprechenden Affekt erzählt wird. Sehr oft ist es aber so, dass Leute die grauenhaftesten Dinge lachend erzählen, als ob es nicht um sie selbst geht. Das ist ein typischer Mechanismus, um die schrecklichen Emotionen von sich fernzuhalten. Die Flüchtlinge glauben wiederum, dass hier jemand sitzt, der sich für ihre Geschichte interessiert. Dem ist aber nicht so. Es geht im Erstinterview nur darum, zu klären, ob Österreich überhaupt zuständig ist oder nicht.

STANDARD: Werden die Menschen durch die Bürokratie zur Nummer?

Heiss: Es ist ein völlig normaler Mechanismus der Beamten zu sagen, so viel Böses kann es nicht geben, das glaube ich nicht. Das ist menschlich, eine Schutzmaßnahme, die in uns drinnen ist, weil wir unsere heile Welt beschützen wollen. Es wäre aber wünschenswert, das zumindest auf einer höheren Ebene zu reflektieren und zu überlegen, wie man damit umgehen kann.

STANDARD: Ist die Nicht-Schulung der Beamten Absicht, Ignoranz?

Heiss: Das kann ich schwer beurteilen. Es drängt sich aber schon der Gedanke auf, dass es System haben muss, ungeschulte Beamte an diese Stelle zu setzen. Das Motiv dahinter kenne ich nicht.

STANDARD: Fehlt es in Österreich am Verständnis für Menschen, die solches erlebt haben?

Heiss: Sogar unter meinen Bekannten herrscht Verwunderung, wenn ich sage, dass wir jährlich 705 traumatisierte Menschen, darunter 85 Kinder, betreuen. Der mediale Asyldiskurs trägt dazu bei, dass der Eindruck entsteht, es kommen nur nigerianische Drogendealer. Der Grundgedanke der Genfer Flüchtlingskonvention scheint völlig vergessen.

STANDARD: Wenn Sie Krieg im Fernsehen sehen, denken Sie schon: Da habe ich bald neue Klienten?

Heiss: Ja, im Moment warten wir auf die Syrer. Aber es dauert, bis die Leute kommen und Hemayat finden. Meist erleben wir das Weltgeschehen hier sehr verzögert. Teilweise arbeiten wir dann Jahre später die Kriegsfolgen auf.

STANDARD: Können Kinder leichter therapiert werden?

Heiss: Es ist faszinierend, wie schnell Entwicklungen bei Kindern passieren können. Das Hauptproblem bei allen sind Konzentrationsschwierigkeiten. Es gibt Studien, dass es auf die Konzentrationsfähigkeit Auswirkungen hat, wenn Menschen als Babys Krieg erlebt haben. Tendenziell gibt es bei Kindern zwei Arten der Verarbeitung: solche, die durch Aggression auffallen, und die, die sich total zurückziehen bis hin zu mutistischen Kindern, die kein Wort sprechen. Mit den angepassten Kindern passiert oft nichts. Die dolmetschen, organisieren, kümmern sich um die Medikamente der Eltern - übernehmen also Rollen in der Familie, die nicht jenen von Kindern entsprechen.

STANDARD: Wie finden die Kinder zu Ihnen?

Heiss: Inzwischen weisen uns viele Einrichtungen Klienten zu - extrem viele Zuweisungen kommen vom Jugendamt, von Kindergärten und Schulen. Und manchmal stehen traumatisierte Eltern da, die sagen, wir halten den Lärm unserer Kinder nicht aus. Das ist auch ein typisches Symptom, die Lärmempfindlichkeit. Da muss ja eingegriffen werden. Außerdem chronifiziert das Leid, es wird immer schlechter und auch schwer zu behandeln.

STANDARD: Was sind die größten Probleme, mit denen Sie in Ihrer Arbeit konfrontiert sind?

Heiss: Neben der Tatsache, dass wir fast 300 Menschen auf unserer Warteliste für Therapie haben, die wir aufgrund der fehlenden Mittel nicht betreuen können? Uns belastet enorm, dass traumatisierte Menschen im Asylverfahren benachteiligt sind, weil sie sich schwertun, ihre Geschichte zu erzählen. Die Erlebnisse sind so überwältigend, dass sie nicht normal verarbeitet und im Gehirn nicht richtig abgespeichert werden. Da gibt es Bilder, Gerüche, Geräusche, aber kein ganzes Bild. Das ist ein Abwehrmechanismus. Ein psychologischer Beistand bei den Interviews oder eine Schulung der Beamten wären da sehr hilfreich. Und natürlich ein Dach über dem Kopf. Ich würde mir in einem so reichen Land wünschen, dass es kein Zelt sein muss, wie die Innenministerin überlegt. (Peter Mayr, Karin Riss, DER STANDARD, 2.8.2014)