Bild nicht mehr verfügbar.

"Wichtig ist, dass man das Kind nicht unter einen Glassturz stellt, sondern machen lässt – aber eben nur das, was die Eltern ihm altersadäquat zutrauen können", sagt Experte Peter Spitzer.

Foto: dpa/Patrick Seeger

derStandard.at: In Österreich beginnt im September wieder die Schule. Wie gefährlich ist der Straßenverkehr für Kinder?

Spitzer: Das Risiko für eine Teilnahme am Straßenverkehr ist abhängig von der Art der Mobilität. Die größten Unfallzahlen mit verletzten und getöteten Kindern haben wir, wenn sie im Auto mitfahren. Aber je jünger ein Kind ist, desto kompakter ist der Kindersitz und desto besser ist die Schutzwirkung. Leider schnallen viele Eltern ihre Kinder viel zu früh nur mit dem Gurt an oder steigen auf ein Sitzkissen ohne Rückenlehne um. Hier sehe ich noch Motivationsbedarf für Eltern.

derStandard.at: Sind SUVs gefährlicher für Kinder als "normale" Autos?

Spitzer: Die Form des Autos, seine Masse und die Geschwindigkeit sind für etwaige Verletzungen ausschlaggebend. Gerade bei Fußgängern entscheiden die Körpergröße und die Frage, an welcher Stelle man vom Auto erwischt wird, über die Art und Schwere der Verletzung. Viel wichtiger als der Autotyp ist aber das richtige Fahrverhalten und das Fahrtempo. Anders ist es bei einem Pkw-Crash, also wenn etwa ein Kleinwagen gegen einen SUV prallt. Da macht das natürlich schon einen Unterschied aus.

derStandard.at: Wie gefährlich ist es, wenn Kinder zu Fuß gehen?

Spitzer: Da ist sicher das Risiko im Volksschulalter am höchsten, weil auch die psychomotorische Entwicklung erst mit circa zehn Jahren ausgereift ist. So sehen wir in Studien, dass etwa Siebenjährige bis zu 50 Prozent die Verkehrssituation falsch einschätzen, bei den Zehnjährigen sind es nur mehr rund zehn Prozent. Wenn Sie jetzt noch das Fahrrad ansprechen wollen: Am Ende der Volksschulzeit können Kinder eine "Freiwillige Radfahrprüfung" ablegen. Leider wird dann der Ausweis sowohl von den Kindern, die glauben, gut Fahrrad fahren zu können, als auch von den Eltern überschätzt.

derStandard.at: Wie üben Eltern am besten mit ihren Kindern den Schulweg? Gibt es das richtige Alter, von dem an ein Kind gefahrlos alleine gehen kann?

Spitzer: Der Schulwegunfall ist traditionell im September ein emotionales Thema. Daher sind in diesem Monaten auch die Unfallzahlen sehr niedrig. Die unfallträchtigen Monate kommen erst danach, also im Oktober und November beziehungsweise im Frühjahr. Wichtig ist, nicht nur mit den Schulanfängern den Schulweg zu üben, sondern auch später, vor allem bei einem Schulwechsel. Bei den Anfängern sollten die Eltern schon in den zwei Wochen vor Schulbeginn mit dem Üben beginnen.

derStandard.at: Wie viele Kinder gehen heute überhaupt noch zu Fuß in die Schule?

Spitzer: Das ist eher abnehmend. Leider sehen wir eine negative Spirale gerade vor Volksschulen: Da sind kurz vor Schulbeginn viel zu viele Autos unterwegs. Um 8 Uhr ist der Spuk dann vorbei, weil die Elterntaxis weg sind. Wir empfehlen Projekte wie Pedibus-Elterngruppen. Diese teilen sich den Schulweg, und am Siedlungssammelplatz geht dann ein Elternteil mit der Schülergruppe. In Südtirol gibt es bereits Modelle, bei denen eine halbe Stunde vor Schulbeginn und zu Schulende bei Volksschulen in einem Umfeld von 500 Metern ein absolutes Pkw-Fahrverbot gilt.

derStandard.at: Ist der Straßenverkehr überhaupt der größte Gefahrenherd?

Spitzer: Wir gehen in Österreich von rund 165.000 Unfällen mit Kindern bis zum 14. Lebensjahr aus, die im Krankenhaus enden – wobei rund ein Drittel davon unter die Kategorie "schwer verletzt" fällt, also etwa Frakturen, Schädel-Hirn-Traumata oder Amputationen. Nur rund 3.000 dieser Fälle passieren im Straßenverkehr. Trotzdem ist der Verkehr sehr emotional behaftet, man sieht die Bilder der kaputten Autos, erlebt ja persönlich jeden Tag selbst "haarige" Situationen.

derStandard.at: Was ist mit Fensterstürzen und Poolunfällen?

Spitzer: Je jünger Kinder sind, desto eher verunfallen sie zu Hause, je älter sie werden, desto weiter weg davon. Als Gefahrenpunkte sehen wir für die ersten fünf Lebensjahre Haushaltsunfälle, Ertrinken, Stürze aus der Höhe wie Wickeltisch oder Fenster; im Volksschulalter ist es der Verkehr; ab dem zehnten Lebensjahr der Freizeit- und Sportunfall. Wichtig ist, dass man das Kind nicht unter einen Glassturz stellt, sondern machen lässt – aber eben nur das, was die Eltern ihm altersadäquat zutrauen können. Letztlich heißt das für die Eltern, das Kind gut einschätzen zu können.

derStandard.at: Es gibt Staaten, in denen etwa beim Bau eines Pools auch die Errichtung eines Zauns gesetzlich vorgeschrieben ist. Sind Sie für eine solche Regelung?

Spitzer: Das Wasser ist sicherlich eine der größten unterschätzten Gefahrenquellen. Eltern bedenken nicht, dass bereits eine Wasserhöhe von zehn Zentimetern ausreicht, damit ein Kleinkind ertrinkt. Auch ein Schwimmkurs mit fünf Jahren plus Abzeichen macht ein Kind nicht schwimmsicher. Länder wie Frankreich und Australien haben solche Gesetze – und es hat dort auch einiges gebracht. Das große Problem ist, dass es heute viele Pools gibt, die nur im Sommer aufgestellt werden – und hier würden viele Eltern es nicht einsehen, einen Zaun zu machen. Das ist also politisch sicherlich schwer umzusetzen.

derStandard.at: Sind Erwachsene sich der Risiken nicht bewusst? Oder sind sie uninformiert?

Spitzer: Es gilt beides. Sehr oft werden Kinder überschätzt. Nur weil ein Kind mit den elektronischen Geräten oft schon besser umgeht als ein Elternteil, ist es im Alter von acht Jahren trotzdem nicht fit für jede Verkehrssituation. Die größte Aufmerksamkeit sehen wir bei Eltern um die Geburt und dann, wenn ihr Kind im Altersbereich von bis etwa zwölf Jahre ist und im Spital vor allem stationär behandelt werden muss. Eine große Fehleinschätzung gibt es sehr oft bei jüngeren Geschwisterkindern: Das ältere Kind hat das ja auch nie gemacht, also warum jetzt das jüngere?

derStandard.at: Andererseits versprechen diverse Apps, die den Aufenthaltsort der Kinder aufzeigen oder sie anders überwachen, Sicherheit. Ist das trügerisch?

Spitzer: Diese Apps sind natürlich mit der Emotionalität von Kindesentführungen verbunden. Für die Vermeidung von Unfällen haben sie keine Relevanz beziehungsweise sind mir derzeit noch keine dahingehend bekannt.

derStandard.at: Heißt das nicht, dass mehr Kontrolle weniger Vertrauen bringt?

Spitzer: Na ja, durch die Möglichkeit der modernen Information wird man sich eben sehr oft bewusst, wie viele Gefahren es gibt. Jedoch kann keiner abschätzen, wie realistisch das Risiko wirklich ist: Wie häufig sind etwa Kindesentführungen auf dem Schulweg? Unfallverhütung kann nicht alles ausschalten. Gerade aus dem Freizeitbereich wissen wir, dass Unfälle mit entsprechenden Verletzungen, die mit Schutzausrüstung oft reduzierbar oder vermeidbar wären, zu einer Verweigerung dieser Betätigung führen, weil alle ängstlich werden. Die Folge ist zu wenig Bewegung - Stichwort: Adipositas. Aber auch das unfallsichere Sitzen vor dem PC führt zu Risiken, wenn auch anders gelagerten.

derStandard.at: Brechen sich die Kinder heute leichter etwas als früher? Sind sie ungeschickter, weil sie sich weniger bewegen?

Spitzer: Nun, die motorischen Fähigkeiten nehmen ab. Dazu gibt es viele Studien. Was vermehrt auftritt, sind die sogenannten Bagatellunfälle, die man im Krankenhaus abklären und behandeln lässt. Die tödlichen Verletzungen gingen in den letzten drei Jahrzehnten von 198 auf rund 28 zurück –durch Maßnahmen in der Sicherheitstechnik, also etwa den Autokindersitz, und in der Legistik. Es gibt aber auch Veränderungen in der Gesellschaft. So sehen wir Radspeichenverletzungen bei Kleinkindern durch mangelnde Fahrradsitze gar nicht mehr; umgekehrt sind das Trampolin und die Quick-up-Pools auf den Markt gekommen.

derStandard.at: Man bekommt jetzt schnell den Eindruck: Überall lauern Gefahren. Ist das nicht ein bisschen alarmistisch?

Spitzer: Das Leben ist zwar immer lebensgefährlich – dennoch sollte man es nicht zu früh oder zu leichtsinnig aufs Spiel setzten. Die große Kindersterblichkeit im Säuglings- und Kleinkindalter vor 100 oder 200 Jahren ließ oft gar keinen Platz dafür, sich auch dieses Themas anzunehmen. Heutzutage ist der Unfall im Kindesalter das größte Risiko, frühzeitig zu sterben. Ein wichtiger Punkt in der Unfallverhütung ist, das Maß nicht aus den Augen zu verlieren. Erscheinungen in den USA, wo man sich schon gegenseitig im Sinne von Vernachlässigung des Kindes anzeigt, wenn Kinder auf einen Baum klettern, sind Extreme, die nicht sinnvoll sind. Überängstlichkeit ist nicht angebracht. (Peter Mayr, derStandard.at, 22.8.2014)