"Hohe Bildungsabschlüsse werden zu einer notwendigen Voraussetzung - mehr nicht", sagt Soziologe Hartmann.

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STANDARD: Ein Sprichwort lautet: Jeder ist seines Glückes Schmied. Ist das zutreffend?

Hartmann: Nein. Dabei wird unterschlagen, dass die Ausgangsvoraussetzungen höchst unterschiedlich sind. Wenn zwei Leute zum 100-Meter-Lauf antreten und nur der eine ist wohltrainiert und hat die richtige Ausrüstung, dann haben sie theoretisch zwar die gleichen Chancen, praktisch ist das aber nicht der Fall. Das sehen wir im Bildungssystem: Die Wege zur Uni sind in Österreich und Deutschland durch eine Vielzahl von Hürden gekennzeichnet. Im gegliederten Schulsystem ist es vor allem der Übergang nach der vierten Klasse in die weiterführenden Schulen. Er ist stark von der sozialen Herkunft abhängig. Das Gleiche gilt nach der Matura für den Hochschulzugang.

STANDARD: Bedeutet das, ein Arbeiter- oder Migrantenkind hat kaum Chancen, nach oben zu kommen?

Hartmann: Naja, sowohl in Österreich als auch in Deutschland hat der Anteil der Studienanfänger deutlich zugenommen. Das bedeutet natürlich, dass sich auch für Kinder aus einfacheren Verhältnissen die Chancen verbessert haben. Aber der Vorsprung, den Akademikerkinder haben, ist geblieben. Von vier Akademikerkindern studieren drei, beim Rest der Bevölkerung ist es von vieren gerade mal eines.

STANDARD: Wann beginnt dieses soziale Auseinandermischen?

Hartmann: Die erste Selektionsbarriere ist, wie gesagt, in der Schule nach der vierten Klasse. Als Beispiel die jüngsten Zahlen aus Deutschland aus dem Jahr 2012, in Österreich wird das ja kaum anders sein: Da wurden die Kinder in vier soziale Kategorien eingeteilt. Von der höchsten Stufe gingen sieben Prozent der Kinder auf die Hauptschule. Bei der untersten ist es mehr als ein Drittel. Klar ist: Jene, die auf der Hauptschule bleiben, haben viel schlechtere Chancen. Die zweite Hürde ist, ob man die Oberstufe macht, die dritte ist die Uni.

STANDARD: Genügt ein Studium überhaupt noch? Der Druck scheint ständig zu wachsen, noch besser ausgebildet zu sein.

Hartmann: Geht es um Spitzenpositionen, dann sind Bildungstitel längst nicht mehr ausschlaggebend. Das wird sich weiter verstärken. Überlegen Sie, welche Positionen heute mit Hochschulabsolventen besetzt werden. Das war vor 30 Jahren anders. Hohe Bildungsabschlüsse werden zu einer notwendigen Voraussetzung - mehr nicht. Es kommen viele Kriterien dazu: In Großbritannien oder Frankreich ist es der Name der Hochschule, die absolviert wurde. Bei uns sind es noch persönliche Eigenschaften, wie ist das Auftreten etwa. Und da sind Kinder aus höheren Schichten im Vorteil.

STANDARD: Der Berufseinstieg startet oft mit einem Assessment Center. Objektiviert das zu wenig?

Hartmann: Es ist eine Bemühung. Aber am Schluss entscheidet doch das Gefühl nach einem Bewerbungsgespräch. Es wird der Kandidat gewählt, der einem sympathisch ist. In der Regel ist das die Person, die aus einem ähnlichen Umfeld kommt. Ein Beispiel: Ein früherer Absolvent der TU Wien muss zwischen einem Fachhochschüler und einem TU-Absolventen entscheiden. Er wird wohl den von der TU besser einschätzen. War er selbst auf einer Fachhochschule, wird er offener sein. Soziale Ähnlichkeit spielt eine große Rolle.

STANDARD: Es werden also nicht unbedingt die besten Köpfe geholt?

Hartmann: Richtig. Aber ob die schlechteren ausgewählt werden, kann man auch nicht sagen. Dieses Experiment ist nicht möglich.

STANDARD: Und in der Politik?

Hartmann: Auch Politiker bringen ihr Denken mit. Eine Frage bei einer Untersuchung der tausend wichtigsten Machtpositionen lautete "Höhere Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen?". Bei den Politikern war es dann unabhängig von der Parteizugehörigkeit so: Jene, die aus Arbeiterfamilien kamen, sprachen sich dafür aus, alle, die aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammen, waren dagegen. Die soziale Zusammensetzung der politischen Elite spielt auch eine Rolle für politische Entscheidungen.

STANDARD: Ist das Streben, zur Elite gehören zu wollen, ein Phänomen der Mittelschicht?

Hartmann: In der oberen Mittelschicht ist das sehr ausgeprägt. Dort wird die Debatte über Bildung daher am intensivsten geführt - besondere Kindergärten oder Fremdsprachenkurse für Dreijährige. Die wirklich elitären Kreise machen sich weit weniger Sorgen. Wenn es in der öffentlichen Schule nicht klappt, können wir zur Not immer noch ein englisches Internat wählen. Gerade bei vielen Bildungsaufsteigern der 1970er- und 80er-Jahren ist die Sorge groß, dass die eigenen Kinder es nicht mehr so gut haben wie man selbst. Dass die Chancen schlechter werden, die Konkurrenz härter ist. Es gilt: Das eigene Kind muss sich durchsetzen können.

STANDARD: Darum diese "Kursitis" vieler Eltern - um die eigenen Kinder möglichst fit zu kriegen?

Hartmann: Ja, natürlich. Es werden Merkmale gesucht, die die eigenen Kinder positiv aus der Masse der anderen herausheben. Das ist dann der bilinguale Unterricht, der Chinesisch-Kurs für Fünfjährige bis hin zu Benimmkursen. Als Reaktion darauf, dass Bildungsabschlüsse zunehmend breiter gestreut sind, braucht es etwas Zusätzliches.

STANDARD: Kann man sich diesem Wettbewerb entziehen?

Hartmann: Ein Stück weit schon. Aber eines ist klar: Nur wer hohe Bildungsabschlüsse hat, hat auch echte Wahlmöglichkeiten. (Peter Mayr, Karin Riss, DER STANDARD, 2.9.2014)