Engel, Prophet, Richter und Jesus in Elfriede Jelineks "Das schweigende Mädchen".

München - Das Schweigen tritt in Elfriede Jelineks Texten umso deutlicher hervor, wenn es inmitten des überströmenden Redens passiert, schrieb Alexandra Millner im Jelinek Handbuch (Metzler 2013). Bei 224 vollgeschriebenen A4-Seiten, die der jüngste Redestrom der Nobelpreisträgerin umfasst, handelt es sich demnach um beträchtliche Schweigemengen.

Um Verdrängtes, das in diesem Fall nicht die österreichische, sondern die deutsche Gegenwart betrifft: Jelineks Das schweigende Mädchen bezieht sich auf den seit Mai 2013 in München laufenden NSU-Prozess, in dem die rechtsradikale Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund des zehnfachen Mordes angeklagt ist. Die rassistischen Morde an zugewanderten Kleinunternehmern wurden lange Zeit irrtümlich, auch von hohen (politischen und medialen) Instanzen, einer „Türkenmafia“ zugeschanzt.

Zielt Jelinek mit ihren Schreibverfahren (sich aufspaltende Perspektiven, Bedeutungsbrüche etc.) üblicherweise auf die Sichtbarmachung des Sprechaktes, so ist es hier das Kenntlichmachen des Schweigeaktes. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe enthält sich seit Prozessbeginn der Aussage.

An den Münchner Kammerspielen, wo das Drama am Samstag vor einem hoch konzentrierten Publikum uraufgeführt wurde, reduziert Regisseur Johan Simons alles Szenische auf sieben vorne an der Rampe sitzende Sprecher, ein von verschiedenen Stimmen gebildetes Gerichtspodium: ein Richter mit verwunschenem Auge und ratlosen Gesten (lustig: Thomas Schmauser), eine Frau und ein Mann aus dem Volk (Annette Paulmann, Hans Kremer), drei Sprecher in Kopftuchkleidern (Benny Claessens, Wiebke Puls, Steven Scharf) und ein trauriger Jesus, der für das alles nur wenige Worte hat (Risto Kübar).

Sie alle sind keine durchgängigen Figuren, sondern verwischen das, wofür sie im Moment des Gesagten und durch ihre Kleidung zu stehen scheinen, immer wieder (Kostüme: Klaus Bruns). Begleitet werden ihre oft vom Blatt gelesenen Textpassagen von zentral auf einem bühnenmittigen Podest positionierten Musikern. Simons begreift den Text als Libretto, eine gängige Praxis bei Jelinek, und kürzt herunter auf etwa ein Viertel, auf zwei Stunden Spielzeit.

Kiste Heimaterde

Ein Mann aus dem Publikum (Stefan Hunstein) schleppt noch eine Kist Heimaterde an; sie ist leer. Alles andere im Bühnenhintergrund, u.a. ein großes Portal mit der Aufschrift „Erbschaftsamt“ (Bühne: Muriel Gerstner), bleibt im Halbdunkel dieses Theaterabends als fatales Mahnmal stehen (das Erbschaftsamt gehört zu dem vom NSU erfundenen und vertriebenen Brettspiel „Progromly“). Diese szenische Zurückhaltung ist konsequent radikal und kommt der Wirkung des Textes und seiner Sprechweisen zugute.

Jelinek verknüpft die Verbrechen und deren Verschweigen mit der christlichen Heilsgeschichte, lässt Engel und Propheten schwatzen („die Wahrheit ist durch Gott gekommen“ oder „Bringen Sie die Botschaft!“). Und diese kündigen den Erlöser genauso lange an wie die Opfer auf eine vollständige Aufklärung warten (werden).

Trotz nur weniger szenischer Manöver bleibt es immer spannend. Simons konzentriert alles auf die Gesten des Die-Stimme-Erhebens und es gelingt ihm damit ein vergleichsweise zurückhaltendes, aber um nichts weniger wirkungsvolles Verwirrspiel mit stets lauernden falschen Tönen.

(DER STANDARD, 29.9.2014)