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Gleichberechtigt aufklären - eine schwierige Angelegenheit.

Foto: AP/Rebecca Blackwell

Jetzt hat er es gesagt! Der sehr entspannte Lehrer meiner neunjährigen Tochter hat beim Elternabend zum thematischen Ausblick auf die 4. Klasse das S-Wort in den Mund genommen: S-E-X-U-A-L-K-U-N-D-E. Hier und da wird scharf die Luft eingezogen, einige kichern leise in sich hinein, andere stöhnen gepeinigt auf. Der Lehrer bleibt gelassen. Er erlebt zum wiederholten Mal, wie sich Eltern in dieser Situation verhalten, und erklärt souverän, dass er alle vorab über die Inhalte des Unterrichts informieren wird und man ihn jederzeit ansprechen könne.

Dass die meisten bei diesen Worten ehrlich erleichtert wirken, kann ich nachvollziehen: Ich kann so die Themen in diesem schwierigen Feld im Auge behalten, wenn ich sie schon nicht mehr exklusiv vermitteln darf. Man dürfe ihm nun gerne noch Fragen stellen, sagt der Lehrer abschließend und sieht jedem und jeder von uns noch einmal kurz in die Augen. Ich hätte tatsächlich eine Frage, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigt, aber ich stelle sie lieber nicht. Es ist eine Grundsatzfrage, und für so eine ist ein Elternabend wirklich nicht der passende Rahmen:

Ist es möglich, Mädchen und Jungen gleichberechtigt über Sexualität aufzuklären? Also in einer Weise, die für alle die gleichen Regeln aufstellt und die gleichen Optionen zur Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse bereithält? Und wenn ja, wäre das überhaupt sinnvoll?

Als Gesellschaft sind wir davon nämlich meilenweit entfernt. Wir problematisieren die Sexualität von Mädchen. Wir reißen Witze darüber, dass unsere Töchter erst mit Ende 30 (frühestens) Sex haben dürfen und dass wir für den Notfall (Jungen, die sie früher "rumkriegen") einen Knüppel mit rostigen Nägeln neben der Tür stehen haben. Wir amüsieren uns über "10 Regeln für ein Date mit meiner Tochter" und scheinen dabei nicht zu bemerken, dass wir unseren heranwachsenden Mädchen die Möglichkeit auf eine selbstbestimmte Sexualität ab- und ihnen stattdessen den Status einer sexuellen Trophäe zusprechen. Etwas, das Jungen haben wollen und sich nehmen werden. Etwas das leider in nicht allzu ferner Zukunft genommen wird. Defloriert. Irgendwie beschädigt.

Die Jungs machen das schon

Deshalb ist das Internet auch voll von Artikeln und Foreneinträgen, die sich damit beschäftigen, wie man damit umgehen kann, wenn die pubertierende Tochter zum ersten Mal bei ihrem Freund übernachten will (oder er bei ihr), während diese Frage in Bezug auf Jungen wenig bis gar nicht von Interesse zu sein scheint. Die wollen das sowieso und machen das schon. Die penetrieren ja nur und werden nicht penetriert. Abgesehen davon, dass das nicht zwingend richtig ist und uns allen klar sein sollte, dass Sexualität aus weit mehr Dingen besteht, bekommen wir die Redewendung "Männer bereuen den Sex, den sie nicht gehabt haben, während Frauen den Sex bereuen, den sie gehabt haben", zu der es inzwischen auch Studien gibt, anscheinend nicht aus unseren Köpfen. Ich auch nicht. Und um bei der Wahrheit zu bleiben: Der Witz über den Knüppel mit den rostigen Nägeln stammt von einem befreundeten Tochtervater, und ich fand ihn in dem Moment sowohl zutreffend als auch lustig.

Zwei Herzen schlagen in meiner Brust. Mit dem einen bin ich als Vater ein Experte in der "Männer sind Schweine"-Thematik unter besonderer Berücksichtigung des "alle Jungen wollen nur das eine"-Schwerpunktes. Mit diesem Herz fühle ich eine größere Wahrscheinlichkeit für meine Tochter als für meinen Sohn, Übergriffe und sexualisierte Gewalt zu erfahren. Mit diesem Herz graut es mir auch vor "Rachepornos" und Onlineprangern, die fast immer Frauen gelten.

Türsteher der Sexualität

Mit dem anderen stemme ich mich ähnlich wie dieser Vater dagegen, mich als Türsteher der Sexualität meiner Tochter aufzuspielen, weil sie ihr allein gehört und niemandem sonst. Weil ich vermute, dass die Art, wie wir unseren Töchtern vermitteln, dass sie als sexuelle Trophäe von irgendjemandem enden könnten, auch ihren Teil dazu beiträgt, dass genau das passiert. Weil ich mir für meine Kinder immer nur das Beste wünsche. Und das liegt in Sachen Sex nicht je nach Geschlecht in "möglichst viel nehmen" und "möglichst wenig genommen werden" begründet - sondern für alle sexuellen Identitäten in Respekt sowie maximaler Selbstbestimmung und Einvernehmlichkeit.

Ich vermag die Frage nach gleichberechtigter Aufklärung von Mädchen und Jungen für mich (noch) nicht abschließend beantworten. Ich kann mich nicht ganz von der Angst freimachen, etwas Wesentliches zu verschweigen, wenn ich sie nicht darüber aufkläre, welches Rollenverhalten von ihr im Gegensatz zu ihrem Bruder erwartet wird. Aber weil solche Fixierungen beide in ihrer Selbstbestimmung beschränken, schulde ich ihr wie ihm, dass ich mein Möglichstes tue. (Nils Pickert, dieStandard.at, 29.10.2014)