"Bildung ist immer verbunden mit Freiheit und Selbstbestimmung", sagte Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (rechts) in der Diskussion mit Konrad Paul Liessmann über dessen jüngstes Buch "Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung".

Foto: Alexandra Eizinger

Wien – Bereits vor seinem Erscheinen ist das jüngste Buch von Konrad Paul Liessmann durch zahlreiche Bildungsdiskussionen gegeistert. Mit "Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung" legt der Professor für Philosophie an der Universität Wien eine Streitschrift vor, die in elf Kapiteln den gegenwärtigen Zustand von Bildung und Wissenschaft verhandelt. Genau einen Monat nach Erscheinen am 29. September diskutierte der Autor unter der Moderation von STANDARD-Innenpolitikredakteurin Lisa Nimmervoll mit Vizekanzler und Wissenschafts- und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) am Mittwochabend in der Wiener Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz über das Buch.

Mit der Praxis der Unbildung beschreibt Liessmann die Tendenz, Bildung "nur noch vollkommen zweckrational zu sehen". Während Bildung im klassischen Verständnis als Quelle des Glücks galt, kann sie dieses Versprechen zunehmend nicht mehr einlösen. "Wenn bei allem, was ich tue, die Frage im Vordergrund steht: 'Was wird es mir am Arbeitsmarkt nützen?', kann das nicht glücklich machen", sagte Liessmann.

Generell stößt sich der Philosoph am Versuch einer Maßregelung von Bildungsinhalten und uniformen Vorgaben. Mitterlehner stimmte Liessmann teilweise zu und sagte: "Mit Uniformität machen wir nicht immer das Richtige, wir sollten eine gewisse Freiheit offenlassen."

Insgesamt lobte er den "brillanten Stil" des Buchs, zudem konnte er aus dem Stegreif die Seite nennen, an der Liessmann die Ideen des Humboldt’schen Bildungsideals beschreibt: Auf Seite 120 geht es um "Hohe Schulen, in denen man lernt, selbstständig Wissen zu erwerben und neues Wissen hervorzubringen". Dem Vizekanzler schien dieses Verständnis der Universitätsbildung zu gefallen, so entwarf er darauf aufbauend seinen Bildungsbegriff: "Bildung ist immer verbunden mit Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstreflexion und Reflexion der Vorgänge in der Welt."

Betrug und Selbsttäuschung

Um das Humboldt'sche Ideal der Einheit von Lehre und Forschung zu gewährleisten, forderte Liessmann mehr Ressourcen. Wir würden "Euphemismen" und "Selbsttäuschungen" unterliegen, wenn wir Orte, an denen das Sammeln von Credit-Points wichtiger genommen wird als inhaltliche Auseinandersetzungen, Universitäten nennen. "Das ist Betrug an den jungen Leuten – sie befinden sich dann nicht an einer Universität, sondern in einer Zertifizierungsagentur."

"Ich halte auch nichts davon, dass die Unis reine Zertifizierungsagenturen und verschult werden", sagte Mitterlehner. Was seiner Ansicht nach im österreichischen Bildungssystem zu wenig oft positiv hervorgehoben wird, sei das erfolgreiche Lehrlingsmodell. "Wir dürfen nicht immer nur über Universitäten sprechen – wir brauchen auch den zweiten Teil: Es kann nicht jeder Akademiker sein", sagte der Wissenschaftsminister.

In eine "völlig falsche Richtung" geht nach Liessmann die Entwicklung des Fachhochschulsektors. Die Mehrheit der Studierenden sei primär an einem tertiären Abschluss als an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung interessiert. "Wenn es mit rechten Dinge zuginge", sollten daher die Mehrheit an Fachhochschulen studieren. "Wir machen es gerade umgekehrt und haben Aufnahmeprüfungen an Fachhochschulen, und wer es dort nicht schafft, kommt an die Universität." Auch Mitterlehner meinte, dass dieser Umstand "ein Fehler ist, den wir beheben sollten".

Mehr Stellen für den Nachwuchs

Mitterlehner sprach sich für "vernünftige Betreuungsrelationen" an den Unis aus – ein Betreuungsverhältnis 1:30 würde er gern sehen. Wie Liessmann ihn erinnerte, beträgt das Verhältnis an der Uni Wien derzeit 1:250.

Um eine Verbesserung zu schaffen, nannte Mitterlehner Deutschland als Vorbild: Dort werden in den nächsten zehn Jahren 25 Prozent mehr Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs an den Unis geschaffen. "Wir sind erst am Anfang. Aber das ist ein richtiger Weg." Dazu brauche es mehr Mittel für die Unis, für die er sich einsetzen will: "Ich kann den Unis nicht sagen, spart da und dort, wenn ich von den zwei Prozent des BIPs, die die Unis nach internationalen Maßstäben haben sollte, noch 0,5 Prozent entfernt bin." Ob sich die Hoffnung bewahrheitet, dass er das mit seiner neuen Rolle als Vizekanzler gewährleisten könne, "werden wir bald sehen".

Pendeln zwischen Extremen

Außerdem will Mitterlehner bei der Prüfungsaktivität der Studierenden ansetzen: "Ich plädiere dafür, dass nicht nur die Bildungs-, sondern auch die Leistungsorientierung an den Unis eine Rolle spielt." Damit konnte sich Liessmann nur teilweise anfreunden. In Österreich sei oft ein Pendeln von einem Extrem ins andere bemerkbar. Zu seiner Studienzeit sei es ihm "oft und oft passiert", in der Mensa jemanden zu treffen, der im 37. Semester studierte.

Das sei zwar nicht wünschenswert, aber noch weniger schätzte Liessmann das andere Extrem, "dass jeder nur Module und Credit-Points vor Augen hat und wir Panikattacken bekommen, wenn jemand ein Semester lang prüfungsinaktiv ist". Das könne auch sehr positiv sein, denn: "Vielleicht liest jemand gerade Kants 'Kritik der reinen Vernunft', und wenn man dieses Buch liest, kann man keine Prüfung ablegen!"

Pathologische Bildungsexperten

Besonders viel Diskussionspotenzial bot das zweite Kapitel der "Geisterstunde" bezüglich Bildungsexperten, in dem sich laut Liessmann "die Praxis der Unbildung in ihrer pathologisch-schwärmerischen Gestalt" zeigt. Mitterlehner gestand: "Man liest das Kapitel und ist betroffen." Doch am Ende nimmt es doch noch eine positive Wende, wenn sich Liessmann dafür ausspricht, auch Lehrer in die Expertengremien miteinzubeziehen. "Und das habe ich ja", sagte der Minister sichtlich zufrieden und resümierte: "Ich finde, dass so ein Expertenteam nicht schlecht ist, es wirbelt die Kultur auf."

Seine halb im Scherz, halb ernst gemeinte Aussage, "Ich wollte Sie daher fragen, ob Sie bei uns mitarbeiten wollen", brachte nicht nur das Publikum, sondern auch Liessmann zum Lachen. Dessen Antwort fiel eindeutig uneindeutig aus: "Nachdem mein Buch eine flammende Kritik an Kompetenzausrichtung ist, muss ich nicht in einem Kompetenzteam sein. Aber wenn mich jemand um Rat fragt, bringe ich mich gerne ein." (Tanja Traxler, derStandard.at, 30.10.2014)