Der Flüchtlingsstrom nach Europa lässt nicht nach. Ein Grund ist der Fall der Diktaturen in Nordafrika. "Libyens Muammar al-Gaddafi war eine Mauer der Einwanderung, und das war im Sinne Europas", sagt der Forscher Belachew Gebrewold.

Illustration: Fatih Aydogdu

Innsbruck - Die Entscheidung zu gehen ist keine, die man leichtfertig trifft. Auszuwandern und seine Heimat zu verlassen ist meist von dem Wunsch, dem Wissen oder zumindest der Hoffnung getragen, in einem anderen Land ein besseres Leben zu finden. Die Voraussetzungen am Zielort sind folglich ein entscheidender Faktor, ob und wohin man geht. Könnte man meinen.

Diese Überlegung stand am Anfang der Forschungsarbeit von Belachew Gebrewold vom Management Center Innsbruck (MCI) und Tendayi Bloom vom United Nations University Institute in Barcelona. Der sogenannte Arabische Frühling, die europäische Wirtschaftskrise - der Mittelmeerraum hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt und die Fassade der vielzitierten Festung Europa zu bröckeln begonnen. Welche Auswirkungen hat das auf die Migrationsentscheidung von Menschen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara?

Um das Ergebnis der Wissenschafter vorwegzunehmen: keine. Jedoch nicht, weil sich die Reise und die Bedingungen nach der Ankunft für Flüchtlinge nicht tatsächlich verändert hätten. Dieser Wandel, sagt Gebrewold, sei im Wissen dieser Menschen bloß nie passiert.

Kein Wissen über Zielländer

Für das Buch Movers and Stayers: Sub-Saharan Migration Decisions and Changing Conditions in the Mediterranean, das kommendes Jahr erscheinen soll, sind rund ein Dutzend Forscher in verschiedene afrikanische Länder gereist, um Interviews mit Flüchtlingen zu führen - sie haben mit ihnen über deren Wünsche, Ziele und Ängste gesprochen. "Es fehlt jegliche Information über die Zielländer, und selbst wenn die Menschen Informationen erreichen, werden sie nicht für wahr gehalten", sagt Gebrewold.

Gründe, warum die Flüchtlinge ihr Heimatland verlassen, gebe es zahlreiche: Angst ums eigene Leben, die prekäre wirtschaftliche Situation. "In vielen Ländern Afrikas, über die in Europa medial kaum berichtet wird, herrschen diktatorische Regierungen. Somalia, Eritrea, Mali, Niger, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, der Sudan, der Südsudan - all diese Staaten sind von akuten Konflikten betroffen, die die Sicherheit der Bevölkerung gefährden", sagt Gebrewold, der selbst aus Äthiopien stammt.

Die Auswanderung einer Person sei dann zumeist eine gemeinschaftliche, familiäre Entscheidung. "Schlepper nehmen bis zu 30.000 Euro, das kann sich einer alleine fast nie leisten." Die meisten müssten dafür Besitztümer verkaufen und Geld von anderen Verwandten nehmen.

Die Hoffnung: Einer geht nach Europa, arbeitet dort und schickt Geld, damit die Geschwister in die Schule oder auf die Universität gehen oder einen Arzt besuchen und die Eltern damit vielleicht ein kleines Unternehmen aufbauen können. "Das wäre auch global betrachtet ökonomisch sinnvoll", sagt Gebrewold. "Und als nicht Top-Qualifizierter und Gebildeter könnte man zur Entwicklung des Heimatlandes beitragen." Das Problem: Es klappe so fast nie.

"Die Illusion Europas bleibt unverändert attraktiv. Dabei hat gerade in Ländern wie Griechenland und Spanien aufgrund der Arbeitsmarktsituation der Rechtsradikalismus massiv zugenommen. Migranten werden immer häufiger das Ziel von Attacken, und es ist alles andere als einfach, einen guten Job zu bekommen", sagt Gebrewold. Schlepper hätten größtes Interesse, die veränderte Situation zu verschweigen. Die Illusion ist schließlich ihr Geschäftsmodell. Die Gefahr von Missbrauch und Vergewaltigungen auf dem Weg nach Europa würde ausgeblendet - und dann käme plötzlich die große Ernüchterung.

Hoffnungsträger und Versager

"Es ist ein massiver Druck, der auf den Ankömmlingen lastet", sagt Gebrewold. "Viele fühlen sich nach kurzer Zeit als Versager. Sie sind der Hoffnungs- und Verantwortungsträger einer ganzen Familie und müssen diese dann enttäuschen."

Dennoch hat der Flüchtlingsstrom nach Europa nicht nachgelassen - ganz im Gegenteil. Ein entscheidender Grund hierfür sei der Fall der Diktatoren in Libyen, Ägypten und Tunesien. "Gerade Libyens ehemaliger Machthaber Muammar al-Gaddafi war eine Mauer der Einwanderung, und das war im Sinne Europas", sagt Gebrewold.

Viele Menschen aus den Subsahara-Staaten hätten versucht, durch Libyen nach Europa zu kommen, und seien auf dem Weg dort aufgehalten worden und geblieben. "Nach dem Sturz Gaddafis ist diese Mauer gebrochen, die Migranten wurden als seine Kollaborateure betrachtet und mussten weiterziehen." Doch auch über die derzeitige Situation Nordafrikas würden kaum Informationen in den Süden des Landes dringen.

Der logische Schluss, den die Forscher aus diesen Erkenntnissen ziehen: In den afrikanischen Staaten südlich der Sahara müssen Medien aufgebaut werden. "Es ist mir völlig unverständlich, warum, aber mir sind keine Organisationen bekannt, die daran arbeiten würden", sagt Gebrewold.

Seiner Ansicht nach sollte Europa dringend damit beginnen, in der Entwicklungszusammenarbeit gezielt auf den Aufbau von Medien zu setzen. "Damit wäre zwar die Flüchtlingsproblematik nicht gänzlich gelöst, aber den flüchtenden Menschen klarer, worauf sie sich einlassen." (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 5.11.2014)