Durch eigenes Gehalt und Verantwortung im Lehrberuf würden Lehrlinge schneller selbstständig, sie übernehmen die Erwachsenenrolle aber nicht freiwillig, sondern werden in sie "hineingezwungen", sagt Jugendforscher Heinzlmaier.

Jedes Teil einer Pendeluhr muss eigenhändig geschliffen, gesägt und gefräst werden. Daran, dass das Ziffernblatt schön anzusehen ist, auch die kleinsten Zahnrädchen miteinander funktionieren und am Ende alles in ein gemeinsames Gehäuse passt, arbeitet Sophia Steixner. In ihrer Lehre zur Zerspanungstechnikerin im Tiroler Ort Absam lernt sie, kleinste Teile zu bearbeiten. Die 17-Jährige ging vom Gymnasium ab, um "mit meinen Händen" zu arbeiten.

Ähnlich erging es Lukas Scherhaufer. Nach dem polytechnischen Schuljahr hatte er "die Nase gestrichen voll". Er wollte "einfach nicht mehr in die Schule gehen", erzählt der heute 17-Jährige. Er suchte auf der AMS-Website nach Lehrstellen. Heute arbeitet Scherhaufer im dritten Lehrjahr als Elektroenergietechniker bei einer Wiener Firma. Dort beschäftigt er sich vor allem mit Mobilfunk- und Fahrleitungsbau – "damit wir Empfang haben und die Züge fahren können".

Ein neuer Lebensabschnitt

Mit dem Schulaustritt begann für Scherhaufer ein neuer Lebensabschnitt. Zweimal fünf Wochen saß er im geblockten Unterricht in der Berufsschule für Elektro- und Veranstaltungstechnik in der Mollardgasse, einer von 23 öffentlichen Berufsschulen in Wien.

Am Abend nach der Schule blieb er in der Bundeshauptstadt, und auch während der praktischen Ausbildung wollte Scherhaufer nicht heimfahren. "Wir sind viel auf Montage gewesen, darum war nie sicher, wann ich am Abend heimkomme", sagt er. Die Zugverbindung ins burgenländische Nickelsdorf sei nicht die beste, er braucht jeden Tag mehr als eine Stunde nach Hause. Deswegen zog er schon mit 14 Jahren von zu Hause aus. "Am Anfang war es toll, endlich von zu Hause weg zu sein, aber es geht einem auch schnell ab", weiß Scherhaufer. Für Familie und Freunde war es ebenfalls eine große Umstellung. "Aber wir sind ständig in Kontakt, und ich komme am Wochenende immer heim." Freitags packt der Lehrling seinen Koffer und nimmt ihn mit zur Arbeit. Mit Feierabend geht's direkt heim ins Burgenland.

Entwurzelung und Lehrlingsheime

Was bei "oberflächlicher Betrachtung" als Freiheit wahrgenommen werde, sei jedoch oft eine "Form der Entwurzelung", sagt Bernhard Heinzlmaier vom Institut für Jugendkulturforschung. Man sei zum ersten Mal von der Familie und dem Freundeskreis entfernt und von völlig fremden Menschen umgeben. Neben dem Druck in der Schule komme so auch noch die Aufgabe auf die jungen Menschen zu, sich alternative soziale Netzwerke aufzubauen.

Die Lehrlingsheime würden allerdings von vielen Lehrlingen noch immer als "zu autoritär und einschränkend" erlebt, meint Heinzlmaier: "Zum einen verlangt man, dass die Lehrlinge in der Arbeit als vollwertige Arbeitskräfte funktionieren sollen, zum anderen behandelt man sie in den Lehrlingsheimen wie kleine Kinder." Heime seien immer ein "Problemort und niemals ein Ort der Freiheit". Wer immer kann, sollte "dem Heim zu entgehen trachten", findet der Jugendforscher.

Firma übernimmt Heimkosten

Durch einen so frühen Auszug aus dem Hotel Mama musste Scherhaufer schnell selbstständig werden – viel früher als andere Gleichaltrige. Denn plötzlich musste er selbst dafür sorgen, "dass das Zimmer aufgeräumt ist und dass man etwas zu essen bekommt". Es sei eine "riesige Umstellung" gewesen: "Man steht nicht mehr auf und bekommt einen Tee hingestellt, sondern muss sich um alles selbst kümmern."

Scherhaufer mietete um 345 Euro pro Monat eine Ein-Zimmer-Garconniere mit Vorraum, Bad und "Miniküche" im Rudolfsheim des Kuratoriums Wiener Jugendwohnhäuser, eines von sieben Lehrlingsheimanbietern in Wien. Sein Arbeitsgeber hatte ihm angeboten, "dass er die Heimkosten übernimmt, wenn die Noten passen", sagt Scherhaufer. Er selbst habe nur "ausgezeichnete Erfolge" gehabt: "Das hat sich dann gut ergeben."

Schutz- und Schonraum "zu früh aufgebrochen"

Einen geblockten Unterricht besucht auch Katharina Freudlsperger. Zehn Wochen am Stück heißt es jeden Tag bis 17 Uhr lernen. "Besser als Jahresschule", meint sie. Der strikte Stundenplan wird durchgezogen, in zwei Wochen wird der Stoff gelernt. In der dritten Woche beginnen Schularbeiten und Tests. "Das ist ein wenig stressig", kritisiert Freudlsperger, die an ihrer Berufsschule in Bregenz auch Schulsprecherin ist.

Zwar ist die 16-jährige Vorarlbergerin mit Lehrbeginn nicht ausgezogen, selbstständiger ist sie trotzdem geworden. "Man wird ganz anders behandelt, viel erwachsener", erzählt sie vom täglichen Umgang mit Bekannten und Familie. Mit allen Zuschlägen verdient sie 860 Euro pro Monat im zweiten Lehrjahr zur Elektroanlagen- und Betriebstechnikerin. Dadurch fühle sie sich viel freier als in der HTL: "Ich lebe zwar noch zu Hause, aber ich führe mein eigenes Leben und habe mein eigenes Gehalt. Ich muss nicht mehr zu Mama und Papa laufen und nach Geld zum Einkaufen fragen."

Durch das eigene Gehalt und die Verantwortung im Lehrberuf würden Lehrlinge schneller selbstständig, sie würden die Erwachsenenrolle jedoch nicht freiwillig übernehmen, sondern in sie "hineingezwungen", sagt Heinzlmaier – "wie viele meinen, einige Jahre zu früh". Man dürfe nicht übersehen, dass für viele junge Menschen der "Schutz- und Schonraum" zu früh aufgebrochen werde und sie sich am Ende des Tages mit ihrer neuen Freiheit "überfordert" fühlen.

Die Kunst, Finanzen zu verwalten

Der Umgang mit dem eigenen Geld müsse aber geübt werden: "Am Anfang ist es ziemlich schnell weg, man muss erst lernen, damit umzugehen, damit man am Monatsende noch etwas hat", sagt Steixner, die sich um ihr erstes Gehalt gleich einen neuen iPod anschaffte. Kommenden Sommer will auch sie das elterliche Nest verlassen. Momentan pendelt die 17-jährige Tirolerin zwischen dem Stubaital und Innsbruck hin und her. Noch reiche das Geld nicht, aber im dritten Lehrjahr möchte sie auch alleine wohnen. (Oona Kroisleitner, derStandard.at, 6.11.2014)