Wien - Kunst kann auch Konfliktforschung sein. Ein Musterbeispiel dafür hat Boris Charmatz am Wochenende mit seinem Stück Levée des conflits im Tanzquartier Wien vorgeführt. Das Ergebnis ist exzellent. Denn der große französische Choreograf dringt in die tieferen Schichten der sozialen Kommunikation vor: dorthin, wo Konflikte entstehen.

Ein Tänzer nach dem anderen tritt auf und absolviert ein Programm aus 25 Gesten. So entsteht ein auf 24 Personen anschwellender Kanon, ein mathematisch kalkulierter "Massen"-Auflauf. Jede falsche Bewegung könnte zur Eskalation führen. Doch gerade am Siedepunkt kühlt die Situation wieder ab. Wie von selbst. Der drohende Ausbruch hat sich, dem Stücktitel entsprechend, aufgehoben. Irritierend für das Publikum, das anderes erwartet: Spannungsaufbau, Krach und entweder Versöhnung oder Showdown, fertig ist die Katharsis.

Charmatz dagegen hält sich an die Konfliktanalyse in Roland Barthes' Buch Das Neutrum. Darin kritisiert der Philosoph, dass Konfliktvermeidung "von der abendländischen Ideologie grundsätzlich als nichtig" behandelt werde. Boris Charmatz lässt dieses ideologische Element fallen.

Dabei stellen die Tänzerinnen und Tänzer keine Figuren dar, sondern ein Kommunikationsfeld her. Worauf Levée des conflits mit bestechender sinnlicher Qualität inklusive einem großartigen Musikscore hinzielt, liegt auf der Hand: Würden wir verstehen wollen, wie die großen Strukturen sozialer Kommunikation funktionieren, hätten wir wesentlich bessere Chancen, katastrophische Konflikte bereits in ihren Ansätzen zu neutralisieren. (ploe, DER STANDARD, 17.11.2014)