Kulturhistoriker Pretzel über die Probleme bei der Forschungsarbeit: "Das Thema gilt an den Unis nicht als normales Thema, man kommt gleich in Verruf, aus eigenen Interessen zu forschen."

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STANDARD: In Wien wird gerade ein neuer Anlauf für ein Denkmal zum Gedenken an die homosexuellen Opfer der Nationalsozialisten unternommen. Sind derartige steinerne Zeugen noch zeitgemäß?

Pretzel: Wenn sie eine provokante Wirkung in der Gegenwart hinterlassen, dann ja. Widmen sie sich nur dem Gedenken und der Rückbesinnung, sind sie nur für einen kleinen Kreis von Leuten wichtig. Es braucht einen gegenwärtigen Appell, um zu zeigen, dass die Verfolgung länger gedauert und es heute noch Folgen hat.

STANDARD: In Berlin gibt es seit 2008 ein Denkmal. Für Aufregung hat damals gesorgt, dass dort zwar zwei Männer auf einem Video küssend gezeigt werden, nicht aber Frauen – was dann später geändert worden ist.

Pretzel: Die Jury hatte nicht im Blick, dass das Denkmal nicht nur auf die Vergangenheit abzielt, sondern auch die Bedürfnisse der Gegenwart miteinbeziehen soll. Die Repräsentationsbedürfnisse von Frauen wurden in dem Entwurf nicht bedacht. Ein Mittel der Verfolgung war ja das Unsichtbarmachen, das hat sich in dem Denkmalentwurf wiederholt und war für die Frauen nicht hinnehmbar.

STANDARD: Gab es Unterschiede bei der Verfolgung von Schwulen und Lesben?

Pretzel: Im Ausmaß war es gravierend. Es waren mehr Männer im Visier.

STANDARD: Warum mehr Männer?

Pretzel: Sie bildeten das Feindbild, da sie eine Vorrangstellung in der Gesellschaft hatten, aus der Frauen damals ausgeschlossen waren. Schwule Männer galten als Bedrohung. Lesbische Liebe wurde als weniger manifest angesehen, sie wurde nicht ernst genommen.

STANDARD: Hat die soziale Schicht eine Rolle gespielt?

Pretzel: Es wurden mehr Homosexuelle aus der sozialen Unterschicht verfolgt. Gebildete Leute konnten sich besser verteidigen und verfügten über sicherere Privaträume – sie mussten ihre Liebschaften nicht in Parkanlagen oder Toiletten treffen.

STANDARD: Gibt es genaue Opferzahlen?

Pretzel: In Konzentrationslagern auf deutschem Gebiet rechnen wir mit fünf- bis siebentausend Internierungen. Die Verurteilungen liegen bei 50.000, fünfmal so viele sind in die Fänge der Polizei geraten. Da ging es auch um Leute, die mit Homosexuellen Kontakt hatten, sie wurden auf "rosa Listen" erfasst, eingeschüchtert und bedroht. So wurde Homophobie in der Gesellschaft verbreitet, ein Effekt, der bis lange nach Ende der NS-Zeit nachgewirkt hat.

STANDARD: Ressentiments, die vorher nicht aufgetreten sind?

Pretzel: Davor war die Homophobie eher moralisch-theologisch motiviert. Die Verachtung und das Moment der Staatsgefährdung, dass sie die Nation untergraben, welches immer mitschwang, das kam erst mit den Feindbildern der Nationalsozialisten.

STANDARD: Aber es gab Kontinuitäten: In Österreich wurde das Totalverbot der Homosexualität erst 1971 aufgehoben.

Pretzel: Es gab einen Rückgriff auf die theologische Begründung. Die Kirchen wurden in der Nachkriegszeit zu den Instanzen, die für eine moralische Erneuerung sorgen sollten. Die Urteilpraxis blieb gleich, nur die Begründung war eine andere.

STANDARD: Erklärt das, warum das eine so lange vergessene Opfergruppe ist?

Pretzel: Das hat mit der Verantwortung des Staates zu tun, der Homosexuelle gnadenlos weiterverfolgt hat. Scham über das eigene Unrecht macht es Politikern schwer, Verantwortung für die Schuld zu tragen. Die gesellschaftliche Liberalisierung hat sich erst in den 1970ern vollzogen. Davor gab es die Trennung zwischen Staat und Kirche nicht. Erst 1973 verschwindet der Begriff "Unzucht". Ab da wird Strafbarkeit durch sexuelle Selbstbestimmung gemessen. Die Ängste sind überwunden worden, aber es hat sehr lange gedauert. Bestimmten Parteien fällt es heute noch schwer, vom Einfluss der christlich-sozialen Ideologie auf die Rechtsprechung Abstand zu nehmen.

STANDARD: Hat es deshalb so lange gedauert, bis Homosexuellen der Opferstatus zuerkannt wurde – in Deutschland 2002, in Österreich 2005?

Pretzel: Die Urteile gegen Homosexuelle sind ja nicht aufgehoben worden. Man war – vom Rechtsstaat her – nicht unschuldig an der Verfolgung. Der Begriff "unschuldig verfolgt" ist aber Voraussetzung für gesellschaftliches Gedenken, auch um sich auf politischer Ebene für eine Rehabilitierung einzusetzen. So war es selbst für die anderen verfolgten Gruppen nicht einfach, gemeinsam mit "Sittenstraftätern" als Opfergruppe genannt zu werden. Außerdem wurden die Verfolgten selbst zum Schweigen gebracht. Für sie gab es in den 1950er- und 1960er Jahren keine Möglichkeit, über das Unrecht, das ihnen angetan worden war, zu sprechen.

STANDARD: Schweigen aus Scham oder Sorge?

Pretzel: In der Gesellschaft war das Klima auch nach Ende der NS-Diktatur so homophob, dass die Verfolgten nicht im Familiengedächtnis als Opfer des Nationalsozialismus bewahrt wurden, sondern als etwas, worüber man peinlich hinwegsieht. Die Verfolgten waren anonym und verschwiegen. Sie hatten keine Chance, erinnert zu werden. Erst die Schwulen- und Lesbenbewegung in den 1970er-Jahren hat sich für ihre Anerkennung eingesetzt.

STANDARD: In Deutschland gibt es eine Bundesstiftung, die als Akt der Wiedergutmachung für die nie geleisteten Entschädigungszahlungen gegründet wurde und dem Thema entsprechende Projekte fördert. Ein Pendant in Österreich ...

Pretzel: ... braucht es. Zu diesem späten Zeitpunkt gab es kaum jemanden, den man noch entschädigen konnte. Es fehlt auch die akademische Forschung. Ziel ist es, das Thema aus den Fußnoten herauszuholen. Das wäre ein Zeichen der Normalität. Ich würde es begrüßen, wenn sich auch heterosexuelle Männer und Frauen mit dem Thema beschäftigen könnten.

STANDARD: Das können sie nicht?

Pretzel: Das Thema gilt an den Unis nicht als normales Thema, man kommt gleich in Verruf, aus eigenen Interessen zu forschen. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, DER STANDARD, 1.12.2014)