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Karin Beier bringt das schwierige Hamburger Schauspielhaus eindrucksvoll auf Kurs: Sie selbst inszeniert Ayckbourn, neben ihr brillieren Regisseurinnen und Regisseure wie Mitchell und Marthaler.

Foto: EPA/ULRICH PERREY

Hamburg - Ach, was müssen das für glückliche Zeiten gewesen sein, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts! Als das Klagen noch geholfen hat, weil man ganz fest glaubte, alles würde immer besser. Und wenn es wider Erwarten doch nicht besser würde, bliebe einem die schöne Erinnerung an diesen Glauben. Es wird ein glücklicher Tag gewesen sein. Wenigstens das schien gewiss.

Damals hatte Winnie zwar kein Dach mehr überm Kopf, aber festen Boden unter den Füßen - genauer gesagt, sie steckte anfangs bis zur Taille und später bis zum Hals in der Erde. Im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses ist Winnie lieber zu Hause geblieben in ihrem Ein-Zimmer-Appartement: vorne der Wohnbereich mit Esstisch, Sofa, Bücherregal und einer Caspar-David-Friedrich-Reproduktion an der Wand. Hinten die Küchenzeile und darüber ein Fenster mit der Aussicht auf Schäfchenwolken, grüne Hügel und kahle Bäume. Die Küchenuhr ist fünf nach zwei stehen geblieben. Der Katastrophe ist Winnie auch hier nicht entkommen.

Eine hellbraune Hochwasserbrühe reicht ihr anfangs bis zur Taille, im zweiten Akt steht ihr das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Winnies Welt ist abgesoffen - was war Ursache, was Wirkung? Sogar die spiegelglatte Wasseroberfläche ist abschüssig. Das ist zwar eine physikalische Unmöglichkeit, aber ein ungeheuer suggestiver Theatereffekt.

Mit der ingeniösen Idee, in der kanonisierten Szenerie von Samuel Becketts Glücklichen Tagen das Element des Untergangs auszuwechseln, ist der Regisseurin Katie Mitchell und ihrem Ausstatter Alex Eales ein spektakulärer Theatercoup gelungen. Julia Wieningers Kopf, auf dem unbewegten Wasserspiegel schwimmend wie auf einem Tablett, und ihre weit geöffneten, von stiller Panik verschatteten Augen wird man lange in Erinnerung behalten. Ein Bild wie eine Epochensignatur.

Mit Gin hinab ins Asoziale

Auch Archie Rice kennt die Welt nur noch aus der Perspektive Oberkante Unterlippe. Anders als in Winnies Wohnküche werden die Pegelstände seines allmählichen Versinkens in Promille angegeben. John Osbornes Der Entertainer (1957) erzählt die Ballade vom sozialen Abstieg im Modus des Proletarierdramas, mit viel Gin als Rutsche ins Asoziale. Christoph Marthaler macht am Hamburger Schauspielhaus daraus eine melancholische und illusionslose Reflexion über den bodenlos flachen Brunnen, den wir, vermutlich aus Gedankenlosigkeit, Unterhaltung nennen. Als stünde er kopfschüttelnd am Bühnenrand und riefe fortwährend in die Szene: Hallo, geht's noch?

Es geht noch, aber nicht mehr lange, und schon gar nicht mehr lange gut. Michael Wittenborn betreibt die Profession des Entertainers nur noch als Dauerbelagerung: Witz komm raus, du bist umzingelt! Unter Aufbietung von Geschützen, die als Folge von Konstruktionsfehlern grundsätzlich weit unterhalb der Gürtellinie einschlagen. Sein Archie Rice ist eine possenreißende Herrentorte, der für einen letzten Lacher nicht mal die Veralberung von Frauen als "Menschen mit Menstruationshintergrund" zu dämlich ist.

Aber, und das ist das Einzigartige von Marthalers Regiekunst: Er stellt diese prolligen Knalltüten nie wirklich bloß. Selbst wenn einige nur wegen ihres Leibesumfanges zur Schwergewichtsklasse der Spaßmacher gehören, bewahren sie sich einen unzerstörbaren Kern von Künstlerwürde. Wenn das gesamte Ensemble, zu dem eine von Marthaler und seiner Dramaturgin Stefanie Carp dazuerfundene "Varietéfamilie" gehört, treppauf, treppab wandelnd den Choral Näher, mein Gott, zu Dir singt, wird das anrührend spürbar. Sie erinnern dann an Verdis Falstaff: Die Welt ist ein Jux, aber nicht immer und für alle ein guter. Riesenjubel. Karin Beiers Schauspielhaus boomt, und das nicht nur wegen ihrer eigenen, jüngsten Inszenierung von Alan Ayckbourns Ab jetzt. (Oswald Demattia, DER STANDARD, 4.3.2015)