Der Onkel hat Lachgummi eingekauft und nimmt die Fernsehregeln nicht immer ernst.

Foto: Haribo

Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen. Sagt man. Und irgendwann sollte es dann einmal laufen. Sollten sie selber laufen, auf eigenen Beinen. Meine großen Sorgen habe ich weitgehend hinter mich gebracht. Die Kinder sind erwachsen. So gut wie. Obwohl: Kinder werden nie erwachsen, sie bleiben Kinder, auch mit 20, 30 oder 40. Es sind die Kinder.

Nahziel und Fernziel

Die Tochter hat ihren Weg gefunden, der Sohn sucht noch. Die Tochter macht ihr Studium. Nahziel: der Abschluss. Der Sohn probiert es jetzt einmal mit Gitarrenunterricht. Fernziel: Rockstar. Soll so sein. Nach dem Semesterzeugnis oder dem Fortschritt des Musikunterrichts erkundige ich mich eigentlich nur noch höflichkeitshalber. Natürlich freu ich mich und fürcht ich mich, aber ich mache keine Vorschriften, keinen Dampf und keinen Druck mehr, ich zügle meine Erwartungen. Es ist ihr Leben. Ich bin froh und glücklich, Teil davon zu sein, und was ich kann, trag ich dazu bei.

Was kleine Kinder und die damit verbundenen Freuden, Pflichten, Rechte und Ärgernisse betrifft, hab ich mir eine Ersatzfamilie gesucht. Die meines Bruders. Ich bin Onkel. Onkel von zwei Fratzen.

Tobsuchtsanfälle am Boden

Sie sind lieb, Nichte wie Neffe. Aber schlimm. "Lebendig", sagt man heute, am Rande der Hyperaktivität, behaupte ich. Nicht erzogen, sagt die Oma. Der Kleine wälzt sich mindestens fünfmal täglich schreiend in Tobsuchtsanfällen am Boden, dazwischen ist er zum Steinerweichen lieb. Die Größere sucht täglich ihre Grenzen, und die findet man bekanntlich nur, wenn man sie überschreitet. Eltern, Omi und auch der Onkel sind wechselweise die Liebsten und Besten oder auch urblöd, wenn nicht gar die "Gemeinsten der Welt", wenn irgendetwas nicht passt. Und sei es, dass der Fernseher nicht aufgedreht wird oder es jetzt keine Süßigkeiten gibt oder Hausaufgaben gemacht werden müssen.

Als Onkel kann man sich das einrichten. Man kann durchgehend lieb sein, weil man sich Zeit und nichts anderes vornimmt. Der Onkel hat Lachgummi eingekauft, hilft geduldig bei den Rechenaufgaben, wenn sie schon längst die Nerven weggeworfen hat, und wenn er wirklich einmal erschöpft ist, dann nimmt er es mit den Fernsehregeln nicht so ernst. Abgesehen davon gibt's Rahmenprogramm, also Bespaßung. Kino, Kleider einkaufen, Modeschau, gemeinsames Zeichnen/Malen/Basteln. Und am Abend liest der Onkel von Prinzessinnen vor, bis er eingeschlafen ist.

Onkelhafte Güte

Das Kind wird zufrieden retourniert, die gesetzten Grenzen waren aus Schaumgummi, der Freiraum war kreativ und fantasievoll erweitert. Zu Hause wird dann wieder getobt und getrotzt, wird die onkelhafte Güte des Wochenendes mit radikalem Schlimmsein und demonstrativer Grenzüberschreitung bei den Eltern kompensiert. Sorry, Bruder. Bei mir war sie ein Engel. Und für die Erziehung bin ich ja nicht zuständig. (Michael Völker, derStandard.at, 16.3.2015)