"Heutzutage zerbrechen Freundschaften daran, wenn Nachrichten nicht innerhalb von 24 Stunden beantwortet werden", sagt Arne Ulbricht.

Foto: Daniel Schmitt www.spitzlicht.de

"Ich neige dazu, meine Schüler in gewissen Situationen anzubrüllen. Das ist auch gut so, solange das nicht jeder Lehrer macht. Es ist wichtig, dass Schüler lernen, wie unterschiedlich Menschen in unterschiedlichen Machtpositionen reagieren", sagt Arne Ulbricht, Autor und Lehrer aus Deutschland. Mit derStandard.at sprach er außerdem über den Trend zur Digitalisierung im Unterricht, den Vorteil von sozial durchmischten Schulklassen und seine Wünsche an Eltern.

derStandard.at: Von verschiedenen politischen Fraktionen wird das Tablet in der Schule als innovatives Unterrichtstool gefeiert. Was sagen Sie als Lehrer dazu?

Ulbricht: Die Schüler und Schülerinnen sind heute schon den ganzen Tag mit ihren kleinen Mini-Tablets, also den Handys unterwegs. Ich bin nicht der Meinung, dass Schule es fördern soll, dass Kinder und Jugendliche noch mehr mit diesen Geräten zu tun haben.

derStandard.at: Was ist das Problem?

Ulbricht: Es heißt, wir müssen den Schülern beibringen, wie man mit diesen Geräten lernt. Aus meiner Sicht geht es viel mehr darum, zu vermitteln, wie man ohne diese Geräte überhaupt leben kann. Auf Dauer züchten wir uns eine Generation heran, die hilflos ist, wenn der Akku leer ist.

derStandard.at: Sie würden Handys an Schulen ganz verbieten?

Ulbricht: Ja, aber ich denke, für Oberstufenschüler sollte es eine Ausnahme geben. Diese sollten in bestimmten Bereichen der Schule ihr Handy benutzen dürfen. In einem meiner Kurse habe ich das Handy gänzlich verboten, denn der Appell an die Vernunft der Schüler ist vielfach wirkungslos geblieben.

derStandard.at: Hat das Konzentrationsvermögen der Schüler aus Ihrer Sicht abgenommen?

Ulbricht: Auf jeden Fall. Oft ist ein letzter Blick auf das Handy vor dem Unterricht ein Grund dafür, etwa weil man irritiert ist, weil eine Nachricht auf Facebook nicht beantwortet wurde. Die Schüler sind teilweise während des Unterrichts in einer völlig anderen Welt.

Nach dem Unterricht wird das Handy sofort wieder herausgeholt, um zu sehen, was verpasst wurde. Heutzutage zerbrechen Freundschaften daran, wenn Nachrichten nicht innerhalb von 24 Stunden beantwortet werden. Wer kein Handy hat, wird heute ausgegrenzt. Es liegt auch an den Schulen, diesen sozialen Druck zu nehmen. Mein elfjähriger Sohn hat zum Beispiel kein Handy.

derStandard.at: Viele Eltern wollen ja, dass ihre Kinder Handys haben, damit sie diese immer erreichen können.

Ulbricht: Die Kinder freuen sich, dass sie das Handy mitbekommen. Und die Eltern rufen ihre Kinder auch immer wieder an. Heutzutage haben viele Eltern um ihre Kinder so Angst, dass sie die Kinder immer zur Schule fahren, auch wenn diese nicht so weit entfernt ist.

derStandard.at: Ihr Sohn lässt sich vom Gruppendruck nicht beirren?

Ulbricht: Mein Sohn darf zu Hause jeden Tag am iPad und am Laptop spielen. Er stellt die Forderung nach einem eigenen Handy in der Regel gar nicht. Und wenn doch, sage ich ihm, er soll den Kindern sagen, er ist heilfroh, wenn die Eltern ihn nicht ständig erreichen können. Weil er mitreden kann, fällt das offenbar gar nicht so auf, dass er dieses Gerät nicht besitzt.

derStandard.at: Ich kenne Dreijährige, die ein eigenes iPad haben. Ihre Eltern sagen, das ist einfach ein fixer Bestandteil der digitalisierten Gesellschaft. Haben Sie Angst, dass Ihr Sohn den Anschluss verliert?

Ulbricht: Kinder und Jugendliche lernen diese Kompetenzen unglaublich schnell. Ich bin außerdem für die Einführung eines eigenen Fachs "Digitalunterricht", in dem etwa der Umgang mit sozialen Netzwerken und Datenschutz geschult werden soll. Ich denke, der Verlust ist größer, wenn man als Kind ein Handy besitzt. Man verliert sich immer mehr in virtuelle Welten und macht noch viel mehr alleine. Die Kinder bemerken dann nicht mehr, wie schön es ist, mit anderen Kindern gemeinsam etwas zu machen.

Das gilt auch für das Lernen, denn Schule ist ein Ort, wo man einander begegnen soll und Stresssituationen gemeinsam überwinden soll. Die Digitalisierung des Lernens führt dazu, dass sich immer mehr Kinder individuell in ihrem Kämmerlein verstecken.

derStandard.at: In einem Text haben Sie die Wichtigkeit des Klassenverbands hervorgehoben. Warum halten Sie diesen für so relevant?

Ulbricht: Der Klassenverband wird wichtiger denn je, gerade weil viele Kinder und Eltern in ihren virtuellen Welten leben. Aber Kinder müssen lernen, damit zurechtzukommen, dass Laura doofe Musik hört, dass der eine vielleicht Muslim ist, andere interessieren sich gar nicht für Religion, der Dritte ist katholisch.

Der Klassenverband ist auch eine wunderbare Gelegenheit, um soziale Schranken zu überwinden – zumindest in Stadtteilen, in denen ökonomische Mischverhältnisse existieren. Es gibt Kinder, die zum 18. Geburtstag einen BMW erhalten, andere gehen für ihre Mutter zum Sozialamt, um Sozialhilfe zu beantragen.

derStandard.at: Also die Schule soll auch zum sozialen Lernen beitragen?

Ulbricht: Es ist wichtig für die Schüler, den Umgang mit unterschiedlichen Lehrern zu lernen. Ich neige dazu, meine Schüler in gewissen Situationen anzubrüllen. Das ist auch gut so, solange das nicht jeder Lehrer macht. Es ist wichtig, dass Schüler lernen, wie unterschiedlich Menschen in unterschiedlichen Machtpositionen reagieren.

derStandard.at: Soll die soziale Durchmischung bei der Wahl der Schule aus Ihrer Sicht im Vordergrund stehen?

Ulbricht: Am wichtigsten ist, dass die Schule in der Nähe des Wohnortes ist, damit die Kinder einfach ihre Freunde treffen können. Ich bin aber sehr froh, dass meine Kinder in ihrer Klasse Kinder aus allen Schichten und verschiedenen Religionen haben.

derStandard.at: In Österreich wird die angebliche Integrationsunwilligkeit von Migrantenkindern und deren Eltern diskutiert. Was können Sie als Lehrer dieser Debatte abgewinnen?

Ulbricht: Das wird auch in Deutschland immer wieder diskutiert. Oft kommt die Geschichte von den muslimischen Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen. In Wahrheit nehmen 98 Prozent von ihnen am Schwimmunterricht teil. Natürlich gibt es immer Einzelfälle.

derStandard.at: Sie haben erwähnt, dass Sie Ihre Schüler manchmal anbrüllen. Darüber haben Sie auch einen Artikel veröffentlicht. Warum brüllen Sie Ihre Schüler an und warum stehen Sie in der Öffentlichkeit dazu?

Ulbricht: Ich habe große Angst vor Lehrern, die immer sagen, sie machen alles richtig. Es ist meine große pädagogische Schwäche, dass ich dazu neige. Wenn meine Kinder richtig Mist bauen, habe ich sie früher auch angebrüllt, das wird zum Glück immer weniger. Ich gebe zu, in gewissen Situationen setze ich mich mit Brüllen durch. Anschließend ging es mir allerdings immer sehr schlecht damit.

derStandard.at: Und Ihr Ziel haben Sie mit dem Brüllen erreicht?

Ulbricht: Das klappt ganz wunderbar, wenn man das einmal im Jahr macht. Wenn es mehr als dreimal in derselben Klasse passiert, hat das aber auch keine Wirkung mehr.

derStandard.at: Vor lauter schlechtem Gewissen haben Sie in der Schule dann einmal Schokolade verteilt?

Ulbricht: Ja, einerseits weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Andererseits wollte ich damit zeigen, dass man dazu stehen sollte, wenn man Fehler macht. Lehrer sind auch nur Menschen. Wir erwarten es ja auch oft bei den Schülern, dass sie sich bei uns entschuldigen, wenn sie zum Beispiel die Hausaufgabe vergessen.

derStandard.at: Haben Sie als Lehrer Wünsche an die Eltern?

Ulbricht: In der Regel gibt es die Probleme mit pubertierenden Schülern. Eltern könnten sehr wohl dafür sorgen, dass die Kinder pünktlich in der Schule sind und die Hausaufgaben machen. Oft reicht die Frage, ob die Hausaufgaben gemacht wurden. Eltern sollten auch darauf achten, dass ihre Kinder nicht jeden Abend Schrott im Fernsehen ansehen. Wichtig wäre, dass die Lehrer die Schüler respektieren und umgekehrt.

derStandard.at: Auf Ihrer Website heißt es, Sie mögen es nicht, Feste mit mehr als drei Leuten zu feiern. Warum das?

Ulbricht: Ich hasse Familienfeste und große Feste im Allgemeinen. Ein guter Freund von mir lädt mich deshalb schon lange nicht mehr zu Geburtstagsfesten ein. Ich sitze gerne mit ein, zwei Leuten zusammen und führe Gespräche. Aber sonst bin ich ganz normal. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 24.3.2015)