Ab Donnerstag als russische Bäuerin am Wiener Akademietheater, ab Ende Mai dann die Antigone in der Regie von Jette Steckel: Schauspielerin Aenne Schwarz stürmt unaufhaltsam den Parnass.

Foto: Georg Soulek

STANDARD: Die Figur der Anisja in Tolstois "Die Macht der Finsternis" schillert in allen Facetten. Anisja macht die Ehe mit dem ungeliebten Großbauern für sich erträglich, indem sie sich mit dem Knecht einlässt. Sie lädt Schuld auf sich und verteidigt doch ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Ist sie Täterin oder Opfer?

Aenne Schwarz: Beides. Man merkt das beim Lesen und denkt sich zunächst: schwierig. Jede Figur scheint klarer und eindeutiger gezeichnet als sie. Was für einen Prototyp gibt sie ab? Beim Spielen entdeckt man einen fantasti-schen Parcours der Gefühle. Man entdeckt sie über ihre wahnsinnige Verliebtheit, die Verfallenheit an den Knecht (Fabian Krüger).

STANDARD: Sind nicht gerade die Frauen die Hauptleidtragenden der geschilderten sozialen Not?

Schwarz: Die reale Not zum Beispiel des Geldes und des Hofes ist da. Die Frauen in dem Stück verabreden sich untereinander. An anderer Stelle üben sie aneinander Verrat. Niemandem ist in der Macht der Finsternis zu trauen. Das Eis ist dünn, auf dem sich alle bewegen.

STANDARD: Das heißt mit Blick auf Anisja?

Schwarz: Sie ist unfassbar verliebt in den Knecht. Sie hat eine große Begierde nach diesem Mann, die sie permanent deckelt. Dabei wird sie auch zum Kind. Das ist eine große Chance, die diese Rolle hat. Ein kleiner Stein gelangt ins Rollen, und am Ende hat man die Lawine. "Eine Sünde zieht die nächste nach sich" , sagt die Figur des Akim (Ignaz Kirchner).

STANDARD: Wie sieht das Regiekonzept von Antú Romero Nunes aus?

Schwarz: Antú Nunes besitzt eine Art Riecher. Er arbeitet gerne mit übergeordneten Ideen. Er fragt: Was sind die Spielregeln? Es wird eine Ebene gesucht, die nur die Schauspieler kennen. Die hält uns so zusammen, dass wir die Figuren nicht "pumpen" müssen. Die Verabredung hält in jeder Situation, sodass man auch einmal etwas anders spielen kann. In diesem Fall kam das Konzept erst spät ins Spiel. Wir haben uns sehr langsam, sehr "naiv" ins Spiel hineinbegeben. Die Sache wuchs und wucherte nach allen Seiten. Die Tolstoi-Welt baute sich langsam auf. Das Stück gewinnt beim Spielen. Es ist kein Tschechow, besitzt etwas Volkstheaterhaftes, aber es ist sehr klug gebaut.

STANDARD: Wurde Tolstoi befragt?

Schwarz: Es gibt einen Text von ihm, eine hundertseitige Beichte. Das ist insofern interessant, als die Figur des Knechtes Nikita am Ende des Stückes ja auch eine Beichte ablegt. Tolstoi vergleicht darin die Menschheit mit dem Vögelchen, das aus dem Nest geworfen wurde. Das piepst und piepst, sitzt im Gras und fragt: "Wo bist du, Mutter? Warum hört mich niemand? Es muss dich doch geben, da du mich doch aus dem Nest geworfen hast." Es gibt einen ewigen Kreislauf von Sünde und Selbstgeißelung, eine Sogwirkung, die die Dunkelheit auf die Menschen ausübt. Das Dunkel ist die Abwesenheit des Lichtes. Das Böse, die Abwesenheit des Guten. Es ist ja vollkommen uninteressant, "böse" Menschen zu spielen. Es sind alle Möglichkeiten im Menschen angelegt.

STANDARD: Der religiöse Diskurs ist bei Tolstoi unumgänglich?

Schwarz: Wenn das Leben nur ein großer Scherz ist, dann muss doch jemand diesen Scherz gemacht haben. Warum beenden wir dieses Leben nicht, wenn es uns nur Leid bringt? Man kann ohne Licht oder ohne den Glauben auch nicht leben. Tolstois radikale Schlussfolgerung lautete: Alles, was wir haben, ist der Glaube. Ich denke, Tolstoi war niemand, der von Kinderbeinen an inbrünstig geglaubt hat. Er steht vielmehr vor dem Nichts und spricht: "Ich fülle die Leere, ich muss es tun, weil ich sonst nicht leben kann." Die große Frage bleibt: Warum hast du mich verlassen?

STANDARD: Sie sind offen für solche Fragestellungen?

Schwarz: Ich habe in Berlin Religionswissenschaften studiert, auch Philosophie. Mich interessieren die damit zusammenhängenden Fragen. An denen kommt man gar nicht vorbei.

STANDARD: Es interessiert Sie nicht allein die technische Herstellung solcher Fragen in der Aufführung?

Schwarz: Die Sinnfragen sind dasjenige, was uns alle ständig umtreibt. Oder wenigstens viele von uns. Was bleibt übrig, wenn Gott tot ist und die Liebe bzw. der Andere erkannt wird als die eigene Projektionsfläche?

STANDARD: Sie sind Absolventin der Berliner Ernst-Busch-Schule. Man sagt dieser Einrichtung nach, sie würde in guter alter DDR-Manier die technische Perfektion ihrer Schüler über alles stellen.

Schwarz: Für mich war diese Schule genau richtig, weil ich denke, das Psychologische, Emotionale habe ich von Haus aus mitgebracht. Für mich war der Sprachunterricht wunderbar. Ich schätzte das sehr. Als Maler musst du auch die Techniken beherrschen. Man kann nur das weglassen oder weiterentwickeln, was man zunächst gelernt hat.

STANDARD: Sie halten ganz bestimmten Regisseuren auffallend "die Treue", etwa Armin Petras oder eben Nunes?

Schwarz: Das gehört mit zum Schönsten. So kommt man mit jeder Arbeit weiter. Man lernt langsam voneinander, Schritt für Schritt, und verständigt sich über immer kleinere Winke. Man vertraut und schätzt einander. Dann kann man endlich wieder "schlecht" sein und auf der Probe Fehler machen. Erst auf der Fährte des Fehler-machen-Dürfens entdeckt man diejenigen Dinge, die man niemals findet, wenn man bloß auf Lösungen erpicht ist. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 31.3.2015)