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Chris Dercon soll die Berliner Volksbühne leiten.

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Wien - Möchte man die Tradition bewahren, muss man Substanzielles ändern. Die interessanteste Idee einer Theaterneubesetzung kommt dieser Tage aus Berlin. Der seit 1992 laufende Vertrag von Volksbühnen-Intendant Frank Castorf dürfte allem Anschein nach nicht verlängert werden. Die Süddeutsche Zeitung will laut Quellen, die nur ihr zugänglich seien, herausgebracht haben, dass der Castorf-Nachfolger schon ante portas steht.

Die Verblüffung ist groß. Es handelt sich um keinen "erfahrenen Theatermann", sondern um den Museumsdirektor Chris Dercon (56). Der Belgier leitet seit 2011 die Tate Gallery of Modern Art in London. Davor verwaltete Dercon, ein erfahrener Kurator mit Kontakten in aller Welt, acht Jahre lang das Haus der Kunst in München.

Die Idee der Berliner Stadtväter und -mütter ist so abwegig nicht. Castorfs stilbildender Einfluss hat weit über die Stadtgrenzen hinaus gewirkt und, im Guten wie im Schlechten, Schule gemacht. Es scheint dem Berliner Kulturstaatssekretär ein unbehaglicher Gedanke zu sein, im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz könnte ein Epigone die Castorf-Suppe auf niedriger Betriebstemperatur weiterköcheln lassen.

Das Beispiel sollte auch in Wien zum Nachdenken anregen. Welcher überraschenden Einfälle bedarf es, um kulturelle Zukunftssicherung zu betreiben? Die kommunale Theaterlandschaft ist fest einzementiert. Kaum hat sich das Wiener Burgtheater aus der tiefsten Krise seit Bestehen herausgearbeitet, feiert man die Erhaltung des Status quo als höchste Errungenschaft.

Die Stagnation in der angeblich lukullischsten Theatermetropole des Sprachraums ist manifest. In Burg, Josefstadt und Volkstheater regiert, mit allen Aufs und Abs, biederes Handwerkerethos. Was gezeigt wird, soll nicht etwa herkömmliche Gewohnheiten in Frage stellen. Heute werden die großen Häuser von unsichtbaren Betriebswirtschaftslehrlingen auf fadem Mitte-Kurs gehalten.

Es gab in der Vergangenheit Dekaden, in denen das Gelingen einer Theaterproduktion nicht unbedingt vom Klingeln der Abendkassen abhängig gemacht wurde. Heute sitzt das Gespenst, beim Publikum vorübergehend auf Unverständnis zu stoßen, allen Intendanten, egal welchen Geschlechts, wie ein Alp im Nacken.

Natürlich ist gegen Burgdirektorin Karin Bergmanns Attitüde der tapferen Trümmerfrau nicht das Geringste einzuwenden. Mit eiserner Fröhlichkeit löffelt sie aus, was andere vor ihr eingebrockt haben. Immer noch versammelt das Haus am Ring ein Ensemble, das alle Stücke spielt. Aber die Konkurrenz hat aufgeschlossen.

In Martin Kusejs Münchner Residenztheater stehen einige der konkurrenzlos besten Schauspieler unter Vertrag. Karin Beier verwirklicht am Deutschen Schauspielhaus Hamburg nach erwartungsgemäß zähem Beginn den buntesten Spielplan eines Riesentankers. In den "konservativen" Münchner Kammerspielen hat man mit Matthias Lilienthal einen der originellsten Querköpfe zum Chef erkoren.

Hierorts gibt man es gerne kleiner. Die Verantwortlichen wollen unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, sie trieben mit den ihnen anvertrauten Subventionsgeldern Jux und Allotria. Die Folgen sind bereits kurzfristig erkennbar. Das herrliche Wiener Josefstadt-Theater wirbt für sich mit dem Hinweis, wie verantwortungsvoll es nicht wirtschafte - im Gegensatz zu manch anderem Mitbewerber. Mit peinigender Insistenz wird vor der zahlen sollenden Kundschaft die Tatsache verborgen, Kunst habe etwas mit ideeller, häufig genug auch mit materieller Verausgabung zu tun.

Theater besitzt Ähnlichkeit mit dem "Karneval" (Michail Bachtin). Von der durchschlagenden Wirkung des Theaters halluzinierte einst auch Antonin Artaud, der sich die Ansteckung aller Beteiligten mit der "Pest" erhoffte. Es braucht kein Seuchenbeauftragter auf den Plan zu treten. Artaud meinte ein geistiges Prinzip. Manchmal reicht es, die Zügel, mit denen die szenische Fantasie gebremst wird, zu lockern. Es häufen sich in letzter Zeit die Wiener Thomas-Bernhard-Produktionen, die von der Firma Rheumalind gesponsert zu sein scheinen.

Es erscheint immerhin denkbar, Anna Badora injiziert dem Wiener Volkstheater ab Herbst etwas Widersetzlichkeit und Wildheit. Vielleicht erwachen auch die kommunalen Mittelbühnen aus ihrer Gemächlichkeit. Man darf die Zuschauer ruhig vor den Kopf stoßen. Manchmal muss man auch nur alles umstürzen, damit es weitergehen kann wie bisher. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 1.4.2015)