Thomas Adès: "Es geht ja immer darum, die Grenzen zu verschieben - auch beim Komponieren. Ich möchte aber nicht über das hinausgehen, was meine Zeitgenossen verstehen können."

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STANDARD: Inwieweit fühlen Sie sich mit englischen Operntraditionen verbunden?

Adès: Ich glaube, dass nationale Traditionen weniger wichtig sind als im 19. Jahrhundert, als es kein Radio gab, weniger gereist wurde und man daran gefesselt war, was vor Ort zu hören war. Ich lebe heute. Außerdem gibt es eigentlich keine englische Operntradition - anders als in Deutschland, Italien und Frankreich.

STANDARD: Was es jedoch gibt, ist eine lange Theatertradition, die eng mit Musik verbunden ist.

Adès: Ja, das trifft die Sache absolut. Unser größter Komponist, Henry Purcell, hat auch viel Musik für Sprechtheater geschrieben. Meine Oper The Tempest wurde sehr stark davon inspiriert. Wenn es einen Einfluss aus der englischen Musik auf mich gibt, dann ist es Purcell - obwohl er eigentlich sehr französisch geprägt ist. Wenn es Fußballmannschaften der Komponisten gäbe, dann würde er für Frankreich spielen.

STANDARD: In der zeitgenössischen Musik scheinen englische und amerikanische Komponisten sich von jeher ziemlich eng an den Ohren der Hörer orientiert zu haben. Trifft das auch auf Sie zu?

Adès: Dazu kann ich nur sagen, dass englische Künstler eher instinktiv arbeiten, während deutsche Komponisten sich immer sehr stark, manchmal obsessiv, mit Problemen auseinandergesetzt haben: mit der Geschichte, der Bedeutung der Kunst usw. Engländer können natürlich auch versuchen, sich damit zu beschäftigen, aber es ist uns nicht angeboren. Wir sind eher pragmatisch. Wenn ich eine Oper schreibe, möchte ich, dass die Leute kommen, um sie zu hören. Mich interessiert es, das Publikum direkt zu erreichen. Dazu muss es die Musik an der Hand nehmen.

STANDARD: War es auch Ihr Instinkt, der Sie Shakespeares "Tempest" als Vorlage nehmen ließ?

Adès: Ja, absolut. Ich war mir gar nicht dessen bewusst, dass es schon so viele Vertonungen davon gegeben hat, sondern hatte einfach das Gefühl, dass das die ideale Geschichte für eine Oper ist - auch für mich, weil so viele Themen vorkommen, mit denen ich mich schon beschäftigt hatte: das Thema der Luft, von Dingen, die in der Luft sind, die Idee einer Insel, der Hof mit seinen Hoftänzen, das Tier im Menschen usw.

STANDARD: Wussten Sie auch sofort, dass Sie nicht auf Shakespeares Text zurückgreifen, sondern ein neues Libretto brauchen würden?

Adès: Ja. Das hauptsächliche Problem, aus Shakespeare eine Oper zu machen, ist die der Rede. Auch die Charaktere und Handlungsmotive bei Shakespeare schwanken oft zwischen Klarheit und Unklarheit, was in einer Oper schwer umzusetzen ist. Meredith Oakes hat nicht nur ein sehr klares Libretto geschrieben, sondern kann auch die Sprache einer früheren Zeit heraufbeschwören, ohne sie zu kopieren. Wir leben ja im 21. Jahrhundert.

STANDARD: Wie sorgen Sie musikalisch für Orientierung?

Adès: Das Textbuch ist sehr logisch aufgebaut, sodass die Musik schon auch irrational sein darf. Ich versuche aber, die Zellen meiner Musik sehr eng miteinander zu verbinden und auch ihre Beziehungen deutlich zu machen. Die Musik für Prospero zum Beispiel ist am Beginn verwickelt und in sich verdreht. Im Laufe der Zeit beginnt sie, sich langsam zu entwirren. Damit versuche ich wiederzugeben, was sich in diesem Charakter abspielt - wie auch bei den anderen Figuren.

STANDARD: Diese Oper ist inzwischen elf Jahre alt und wird noch immer regelmäßig gespielt. Können Sie sich diesen Erfolg erklären?

Adès: Wenn ich das nur wüsste! Es würde mir für die nächste sehr helfen ...

STANDARD: Sie haben erzählt, bei der Uraufführungsproduktion hätten sich Sänger über ihre unbewältigbaren Parts beschwert - und sie dann doch sehr gut gesungen.

Adès: Das passiert häufiger. Es geht ja immer darum, die Grenzen zu verschieben - auch beim Komponieren. Ich möchte aber nicht über das hinausgehen, was meine Zeitgenossen verstehen können. Ich möchte nicht wie ein Außerirdischer wirken. Aber die Sprache zu erweitern - darum geht es beim Komponieren immer. (Daniel Ender, 13.6.2015)