"Wir werden in den Gedenkstätten immer aufgefordert, Mitleid mit den Opfern zu haben, ohne darüber nachzudenken, wie es überhaupt möglich war. Dort verschwinden die Täter, wo es aber am wichtigsten wäre, sie sichtbar zu machen", sagt die Historikerin Mary Fulbrook.

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STANDARD: Sie forschen über den Nationalsozialismus und recherchieren Täterbiografien. Hat sich die Wissenschaft zu sehr auf die Geschichte der Opfer konzentriert?

Fulbrook: Ja und nein. Die Geschichte wurde immer von der Seite der Täterdokumente geschrieben, über ihre Politik. Die Opfer wurden meistens nur als Objekte, als tote Masse beschrieben. Sie hatten eine passive Rolle. Besonders israelische Historiker haben sehr früh die Opfer hineingeschrieben, dass sie nicht nur passiv waren, sondern auch Widerstand geleistet haben. In der öffentlichen Geschichte ist das nicht richtig gelungen. Wir werden in den Gedenkstätten immer aufgefordert, Mitleid mit den Opfern zu haben, ohne darüber nachzudenken, wie es überhaupt möglich war. Die Täter verschwinden, dort wäre es aber am wichtigsten, sie sichtbar zu machen.

STANDARD: Nicht selten wird "endlich ein Schlussstrich" verlangt.

Fulbrook: Diejenigen, die einen Schlussstrich ziehen wollten, waren ja meistens auf der Täterseite. Sie wollten sich als unschuldig und unwissend geben, sie wollten nicht darüber sprechen. Wir haben die Opfergeschichte aufgearbeitet, aber wir verstehen immer noch nicht, warum es möglich war, so viele Menschen zu ermorden. Das war nicht nur die Schuld der Haupttäter wie Hitler, Himmler und Heydrich, sondern auch die Schuld der ganz normalen Menschen, die daran mitgewirkt haben und danach nichts mehr davon wissen wollten.

STANDARD: Ist es zu spät, die Tätergeschichte aufzuarbeiten?

Fulbrook: Nein, wir haben jetzt die Möglichkeit, uns mit dieser Geschichte zu befassen. Wir bedauern zwar, dass bald das Ende der Zeitzeugengeneration sein wird. Aber wir bedauern hauptsächlich, dass die Überlebenden aussterben; es sterben aber auch jene, die mitschuldig waren. Die dritte und vierte Generation kann das jetzt nachholen, was für die zweite Generation, die Kinder der Täter, noch fast unmöglich war. Es war ungeheuer schwierig, sich der Vergangenheit der Eltern zu stellen und zu sagen: "Ich liebe dich immer noch, aber ich hasse das, was du getan hast und wofür du gestanden bist." Die emotionalen Verbindungen sind nicht mehr so eng, sie haben diese Konflikte innerhalb der Familie nicht.

STANDARD: Es ist auch vielen Opfern schwergefallen, darüber zu sprechen, was ihnen passiert ist. Ist bei den Tätern die Hemmschwelle, zu reden, nicht noch höher?

Fulbrook: Bei Opfern ist es viel komplizierter. Es gab keine so große Hemmschwelle in den ersten Nachkriegsjahren, wie so oft behauptet wird. Es gibt viele Zeitzeugenberichte aus dieser Zeit. Aber das breitere Publikum auf der Täterseite wollte nicht hören, was den Opfern geschehen ist. In der Zeit der Prozesse in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde Zeugen nur zugehört, wenn es der juristischen Aufarbeitung gedient hat, sie also genau Täter, Taten und den Zeitpunkt nennen konnten. Erst Ende der 1970er kam die große Wende, wo man plötzlich daran interessiert war, was den Menschen widerfahren ist und was das für ihr Leben vorher und nachher bedeutet hat. Das war die Ära der Zeitzeugenberichte.

STANDARD: Ist diese Phase zu Ende?

Fulbrook: Jetzt sind wir in der vierten und letzten Phase: Die Zeugnisse der Überlebenden sind nicht mehr nur dafür wichtig, zu erfahren, was geschehen ist. Das wissen wir. Wir bekommen durch sie aber eine Aura der Authentizität. Weil wir ihre Geschichte emotional mitfühlen, haben wir das Gefühl, indirekt das zu erleben, was ihnen widerfahren ist. Sie verkörpern die Narben der Geschichte. Diese Authentizität kann auch durch Gedenkstätten übermittelt werden.

STANDARD: Kann die Authentizität nur durch Opfer erzeugt werden?

Fulbrook: Nein, aber auf der Täterseite sieht es anders aus. Sie wollten sich natürlich nicht stellen, wenn sie im juristischen Sinn schuldig waren, sich aber unschuldig darstellen wollten. Es wurde auch nur ein verschwindender Teil vor Gericht gestellt. 99 Prozent der Menschen, die Juden ermordet haben, mussten sich nicht vor Gericht verantworten. Das ist eine schreckliche Zahl. In Österreich gab es ab den 1970er-Jahren fast überhaupt keine NS-Prozesse mehr. Es gab aber noch eine viel größere Mehrheit der Bevölkerung, die mitschuldig war und auch geschwiegen hat.

STANDARD: Derzeit findet in Deutschland einer der letzten Auschwitz-Prozesse statt, bei dem sich der SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord verantworten muss. Er steht zu seiner moralischen Schuld, sieht sich aber nicht als Täter.

Fulbrook: Es ist eigentlich schade, dass gerade Oskar Gröning jetzt vor Gericht gestellt wird. Er war einer derjenigen, die wirklich versucht haben, von Auschwitz wegzukommen – dreimal. Später hat er den Holocaust-Leugnern widersprochen und öffentlich erzählt, was er in Auschwitz gesehen hat. Diejenigen, die wirklich schuldig waren und Tausende ermordet haben, mussten sich aber nicht vor Gericht verantworten.

STANDARD: Entscheidend bei der Schuldfrage ist aber auch eine Ebene darunter, die Schreibtischtäter. Darüber haben Sie ein Buch geschrieben.

Fulbrook: Das war für mich eine schwierige Geschichte, ich kannte einen Mittäter, es war der Mann einer Freundin meiner Mutter. Er war ein Landrat, also Beamter, etwa 40 Kilometer von Auschwitz stationiert. Er hat an der Entstehung des Ghettos mitgewirkt, wo 85.000 Juden auf dem Weg ins Konzentrationslager zusammengedrängt wurden. Er war an ihrer Ausgrenzung beteiligt. Nach dem Krieg war er wieder Beamter in Westdeutschland, hat aber nichts davon gesagt, welche Rolle er bei der Stigmatisierung und der Deportation der Juden hatte. Ich kannte ihn persönlich, wusste aber nicht, dass er Nazi und mitschuldig war.

STANDARD: Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Fulbrook: Man musste nicht Antisemit sein, um an der Ausgrenzung und Ermordung der Juden mitschuldig zu sein, man musste nur mobilisierbar sein. Er wollte Karriere machen. Solche Leute waren sehr wichtig, um die Vorbedingungen für den Holocaust herzustellen. Ohne sie wäre es für die Gestapo und die SS nicht möglich gewesen, so schnell und effektiv zu deportieren. Viele Leute konnten ganz kleine Rollen spielen, ohne je antisemitisch zu sein und sich je schuldig zu fühlen. Es war kein mörderischer Antisemitismus, der sie bewegt hat, vielleicht nur alltäglicher Rassismus.

STANDARD: War er ein Mitläufer?

Fulbrook: Nein, er war mehr. Er war ein Funktionär im Staatsapparat. Er hat nachher gedacht, dass er anständig war, weil er selbst keinen Menschen ermordet hatte. Trotzdem war er an der Ermordung mitschuldig.

STANDARD: Was hat es für Sie bedeutet, dass Sie ihn kannten?

Fulbrook: Ich war so empört über diese Geschichte, ich wollte unbedingt mehr wissen. Zunächst dachte ich, es ist so typisch für so viele Leute, es muss geschrieben werden. Aber ich habe mich auch gefragt, wie ich das seinen Kindern antun kann, die dachten, er sei ein anständiger Mensch gewesen. Habe ich das Recht, das zu zerbrechen? Aber wenn ich es nicht mache, mache ich mit bei der Verdrängung.

STANDARD: Sie haben das Buch geschrieben. Wie hat seine Familie reagiert?

Fulbrook: Ein Sohn hat mir alle Briefe seiner Mutter zur Verfügung gestellt, mit mir darüber gesprochen und das Manuskript gelesen. Am Ende haben wir festgestellt: Ich sehe das Glas halb leer, er sieht es halb voll. Aber wir sind uns einig, dass die Geschichte nicht ganz so war, wie sie sein Vater erzählt hat.

STANDARD: Wusste seine Frau, die Freundin Ihrer Mutter, Bescheid?

Fulbrook: Ja, sie wohnten beide zusammen in Będzin, etwa 40 Kilometer von Auschwitz. Sie hat fast jeden zweiten Tag nach Hause geschrieben, wo sie alles geschildert hat, was dort geschah. Ich habe die Briefe mit den Memoiren ihres Mannes verglichen, wo das alles ausgeblendet war. Er hat es verzerrt dargestellt, als ob er nie dort gewesen ist und immer verschwunden war, wenn etwas passiert ist.

STANDARD: Ist das typisch für den Umgang der Täter mit ihrer Vergangenheit?

Fulbrook: Das kann ich nicht sagen, aber für mich war es sehr aufschlussreich. Man bekommt Einblicke, wie die Tätergeneration versucht hat, die Geschichte zu verschleiern. Das finde ich auch in vielen anderen Täterberichten.

STANDARD: Ihre Mutter musste Mitte der 1930-Jahre aus Berlin emigrieren. Die Freundschaft zu der Frau hat sie nach dem Krieg fortgesetzt, ohne über die NS-Täterschaft ihres Mannes Bescheid zu wissen.

Fulbrook: Das finde ich sehr schmerzhaft, sie wurde nicht betrogen, aber das wurde bewusst verschwiegen. Meine Mutter war stark mit Deutschland verbunden, deswegen hat sie die Freunde aus ihrer Schule nach dem Krieg wieder getroffen, obwohl viele Menschen in den 1930er-Jahren Freundschaften mit Bekannten jüdischer Herkunft abgebrochen haben, weil es sich nicht gehörte, mit Juden befreundet zu sein. Das war auch eine Vorbedingung für den Nationalsozialismus. (Marie-Theres Egyed, 23.6.2015)