Wien – Die Oper, in ferner Vergangenheit prachtvoll erblüht, tut sich schwer mit der Gegenwart. Die Intendanten großer Opernhäuser sind kühl kalkulierende, die Auslastungszahlen fest im geschäftsführenden Auge habende Museumsmanager. Ihre Operntanker sind schwer manövrierbar, deren Kurs muss schon Jahre im Voraus festgelegt werden. Das Heute findet woanders statt.

Bei den Musiktheatertagen Wien, zum Beispiel. Die gibt es seit exakt heute, Donnerstag. Georg Steker und Thomas Desi haben das Festival ins Leben gerufen, um kleinen zeitgenössischen Produktionen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Bis Mitte September sind im Werk X im Kabelwerk sieben Uraufführungen unterschiedlichster Art zu erleben. Aufgrund der kurzfristigen Planung sind die Themenschwerpunkte zum Teil recht gegenwartsnah: Wohnungsnot und Gentrifizierung etwa.

Gerade einmal ein Jahr her sind die Kabalen um die Zwangsräumung eines Hauses in der Wiener Mühlfeldgasse, in dem Punks und Altmieter zu einem kreativen Miteinander fanden. Im Stück Pizzeria Anarchia hat sich das Balletto Civile unter der Leitung Michela Lucentis mit dem Ereignis auseinandergesetzt und möchte "etwas Absurdes" erzählen (Musik: Michael Emanuel Bauer; ab 27. 8.)

Ebenfalls um Wohnraum als volatilen Marktwert geht es im Stück disPLACE (Musik: Raquel García Tomás und Joan Magrané Figuera, Text: Helena Tornero). Schauplatz ist eine Wohnung in einem Haus an der Las-Ramblas-Promenade von Barcelona, in der nach dem Auszug der Altmieter und der Renovierung ein Hipster-Paar einzieht (ab 1. 9.). Um die Gentrifizierung in Griechenland geht es in Re-volt Athens (Musik: Tilemachos Moussas, Text: Tsimaros Tzanatos). Desi erwartet von Regisseurin Elli Papakonstantinou eine "trashige, performanceartige" Herangehensweise an die Dinge (ab 3. 9.)

Poe-Inspiration auf Pooldach

Installationen erwarten den Besucher bei der Produktion der Gruppe "Oper unterwegs": Deutsche Kunststudenten haben in Oedipus Lost (Regie: Helga Utz) 31 Einzelaktionen zum Thema kreiert, ungefähr zehn sind an jedem Wochenende zu erleben (ab 28. 8.) Aufs Pooldach des Kabelwerks geht es bei Stille Wasser: Komponistin Iris ter Schiphorst hat sich von einer Erzählung Edgar Allen Poes inspirieren lassen (ab 29.8.)

Dass Afrika in den Medien nur noch als Ursprungsort von Flüchtlingsströmen, humanitärer Katastrophen und terroristischer Organisationen präsent ist, hat Thomas Desi gestört. In seinem Stück Ujamaa Paradise erinnert er an Julius Nyerere, Tansanias langjährigen Staatspräsidenten, der dort sozialistische Utopien verwirklichte. In Desis als Traum zu begreifendem Werk ist Nyerere jedoch nur als Geist präsent, hingegen wird einer Mitarbeiterin Nyereres eine Stimme gegeben. Mozarts Zauberflöte wird von ostafrikanischen Musikern interpretiert und auf Suaheli gesungen. Und ausgerechnet Freigeist Papageno bügelt.

Verrückt? Unberechenbar? Abgehoben? Geerdet? Lebendig? Wahrscheinlich sind die Musiktheatertage Wien ein bisschen etwas von allem. Hoffentlich. (Stefan Ender, 26.8.2015)