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Fabian Krüger als Durchreisender, Oliver Stokowski als Ossip, Michael Maertens als Bürgermeister und Hermann Scheidleder als Bürger in Gogols "Der Revisor" am Burgtheater.

FOTO: APA/GEORG HOCHMUTH

Wien – Nikolai Gogols Russland ist eine einzige wunderbare Kantine. Im Wiener Burgtheater räumt Regisseur Alvis Hermanis dem Revisor, einer der kurzweiligsten Komödien der Welt, viereinhalb Stunden ein. Die Volksküche eines Provinznestes dient nicht nur als – kulinarisch zweifelhafter – Bürgertreff. Leibhaftige Hühner von ehrfurchtgebietender Größe stolzieren flauschweich zwischen dem abgewetzten Mobiliar herum. Die geflügelten Neuzugänge des Burg-Ensembles entpuppen sich als tadellose Mitarbeiter von bemerkenswerter Disziplin.

An den Anfang haben Regisseur und Kantinenleitung aber die Muße gesetzt. Küchenfeen mit Haarnetzen bringen das Geschirr zum Klingen. Erst allmählich verschaffen sich die Dörfler Zutritt. Die Hosen spannen über den Wattewänsten. Man pappt sich Püree auf den Teller und labt sich am Tee. Der Herr Schuldirektor (Johann Adam Oest) wechselt mit dem Drachen an der Kassa eine innige Umarmung. Zwei Bürger (Hermann Scheidleder, Dirk Nocker) scheinen überhaupt siamesische Zwillinge zu sein.

In den monströsen Lüftungsschächten herrscht ein unsichtbares Getrappel. Die postsozialistische Tristesse hat lauter Ungeheuer geboren. Leider Gottes erzählt das beflissene Ausstattungswerk keine Neuigkeiten über Gott und die Welt.

Für jede seiner Knallchargen hat Hermanis ein Auge. Wobei es mit der Menschenliebe nicht weit her ist. Gogols schneidend scharfe Satire soll 1836 den damaligen Zaren kolossal erheitert haben. Der zeitgenössische Reiz besteht angeblich in den ruchbar gewordenen Machenschaften an der Wiener Burg. "Dolose" Handlungen sollen unter Direktor Matthias Hartmann gesetzt worden sein.

Als weiter erinnerungswürdig wird man Hermanis' postsozialistische Volksausgabe des Gogol-Klassikers nicht bezeichnen wollen. In dieser Unterwelt vor schmierigen Fenstern und verschmutzten Kacheln (Ausstattung: Hermanis) schlägt die Stunde der Bäuche und Spiegelglatzen. Ein korruptes Völkchen in verbeulten Anzügen wird durch die Ankündigung, ein Kontrollbeamter sei da, vor den Kopf gestoßen. Hat da jemand Burg gesagt?

Der Bürgermeister (Michael Maertens) ist ganz aus dem Häuschen. Er verschafft sich durch das Zusammenschlagen zweier Tabletts beim apathischen Mannsvolk Gehör. Er verliest einen kuriosen Brief, der das Nahen eines inkognito reisenden Prüfers ankündigt. Er möchte dem Revisor gerne mit Gefälligkeiten um den Bart gehen. Er nölt und nasaliert, wie das nur der Schauspieler Maertens kann, und fällt – fast wie der Dorfrichter Adam – vom Tisch, auf dem er steht, in den Abgrund hinunter.

Von Tragik weiß diese selbstverliebte Burg-Unternehmung wenig zu berichten. Hermanis markiert mit viel Aufwand den Menschenversteher. Auf ihre Diät aus Kartoffelpampe und Absud eingeschworen, hoffen die dörflichen Einfaltspinsel auf einen Ausweg aus ihrer Lebensmisere. Hermanis gibt ihnen viele Aufgaben mit auf den Weg. Sie müssen kollektiv im Türrahmen feststecken oder sich auf beschmutzte Klosettbrillen setzen. Bei so viel Augenzwinkern bleibt weitgehend unentdeckt, wie schmalbrüstig sich der hereingeschneite Schwärmer und Schwätzer mit dem Oberlippenbart (Fabian Krüger) in Wahrheit ausnimmt.

Bierbauch und E-Bass

Alle Versuche, das angebliche Kontrollorgan aus der Hauptstadt geneigt zu stimmen, fruchten nichts. Der Asoziale in den volkseigenen Jeans will bloß der drallen Bürgermeistersgattin (Maria Happel) und deren überständiger Tochter (Dörte Lyssewski) an die Fehlwäsche. Mit ihm reist ein Faktotum mit Bierbauch und E-Bass (Oliver Stokowski). Happel ist, wie zu erwarten, die überlege- ne Komödienfachfrau in einer zweifelhaften Unternehmung. Als wahre Proserpina der Volksküche vereint sie in sich die Rollen der Mutter, des Vamps, der Kassiererin und der Klosettfrau. Ringsherum: eitles Kunstgewerbe, das den Schneidern und Hühnerdompteuren viel Arbeit abverlangt hat. Und die Erkenntnis, dass es keine Revision gibt, außer derjenigen, der man sich selbst unterzieht.

Der Applaus war freundlich und enden wollend. (Ronald Pohl, 5.9.2015)