STANDARD: Die genaue Lektüre Ihres Buches legt die Frage nahe: Dürfen Politiker lügen?

Van der Bellen: Na ja: Das kommt darauf an. Ich nehme an, Sie spielen auf eine Episode aus dem Parlament an – wo es um die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands gegangen ist ...

STANDARD: Und wo Sie recht freimütig meinten: Sie haben Verständnis dafür, wenn die Finanzministerin die Unwahrheit gesagt hat.

Van der Bellen: Es ging dabei um eine Parlamentsdebatte zu einem Zeitpunkt, zu dem ich meine, dass Finanzministerin Maria Fekter ebenso wie ich der Meinung war, dass Griechenland insolvent ist und nicht nur illiquid. Dennoch hat sie auf eine Anfrage des BZÖ geantwortet, dass Griechenland nicht insolvent wäre. Das ist eine zu rechtfertigende Unwahrheit.

Politiker und zumindest noch kein Präsidentschaftskandidat – Van der Bellen: "Ist das kokett?"
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STANDARD: Weil man die Wahrheit nicht hätte sagen dürfen?

Van der Bellen: Wenn sie dem Ausdruck gegeben hätte, was ich für ihre wirkliche Meinung, die ich natürlich nicht kennen kann, gehalten habe, dann hätte das sofort zu Turbulenzen auf den Finanzmärkten führen können, mit Ansteckungsgefahr für Spanien und Italien. Mit Konsequenzen, die jedenfalls nicht Ministerin Fekter hätte beherrschen können, sondern – wenn überhaupt – wieder einmal nur die Europäische Zentralbank.

STANDARD: Wenn ein österreichischer Minister aus dem europäischen Konsens ausschert, führt das zu internationalen Turbulenzen?

Van der Bellen: Das wäre nicht unwahrscheinlich. Es macht auf den Finanzmärkten einen entscheidenden Unterschied, ob ich als Chef einer kleinen Oppositionspartei so etwas sage – was ich in der Debatte auch gesagt habe – oder ob das eine Finanzministerin sagt. Sie kennen die Parabel von des Kaisers neuen Kleidern: Die Kinder dürfen auf den Kaiser zeigen und sagen, dass er nackt ist. Der Hofmarschall darf das nicht.

STANDARD: Und im Sinne der europäischen Räson müssen die Regierenden auch lügen?

Van der Bellen: Um große Risiken wie das beschriebene zu vermeiden, darf man notfalls die Unwahrheit sagen.

STANDARD: Hatten Sie im Lauf Ihrer Politikerkarriere öfter den Eindruck, dass Ihr Gegenüber Sie belügt – dass der- oder diejenige es doch eigentlich besser wissen?

Van der Bellen: Nein. Nicht oft. Ausweichende Antworten – das ja. Glatte Unwahrheit: selten. Ich bin da auf eine Glosse von Franz Walter vor einigen Jahren im "Spiegel" gestoßen, wo er einigen Politikern wie etwa Churchill nachgewiesen hat, dass sie die Unwahrheit gesagt haben. Würde man deshalb sagen, dass Churchill ein schlechter Politiker war?

STANDARD: Wohl eher nicht.

Van der Bellen: Zu diesem Schluss kommt auch Walter. Aber das ist natürlich kein Freibrief für Kleingeister aller Art, zu meinen, dass man immer und jederzeit herumlügen kann. Das natürlich nicht.

Manchmal seien Unwahrheiten zulässig, aber: "Das ist kein Freibrief für Kleingeister aller Art, zu meinen, dass man immer und überall herumlügen kann."
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STANDARD: Und wie ist es Ihnen selber gegangen? Ich meine: In Parteigremien kann man auch nicht immer alles sagen, sonst wird man wohl nicht gewählt?

Van der Bellen: In Parteigremien darf man schon die Wahrheit sagen – aber wenn man dann hinausgeht aus dem Gremium, und es wurde dort etwas beschlossen, mit dem man vielleicht nicht einverstanden war, wo man also seine andere Position nicht durchsetzen konnte – da muss man gleichwohl dem STANDARD nachher sagen: "Großartig, was wir da wieder Tolles beschlossen haben!" Das ist schon vorgekommen ...

STANDARD: Hat Ihnen das wehgetan?

Van der Bellen: Manchmal schon.

STANDARD: Es gibt aber auch Dinge, wo Sie sagen: Das geht niemanden etwas an. So raten Sie jungen Politikern davon ab, sich für Homestorys herzugeben, wie das durchaus auch Grüne gemacht haben.

Van der Bellen: Es hat mehr oder weniger spektakuläre Einzelfälle gegeben wie Thomas Klestil mit dem berühmt-berüchtigten "News"-Interview über seine Privatsphäre. Oder Karl-Heinz Grasser – der hat das ja inszeniert. Aber wenn Sie das mit England und USA vergleichen, dann haben wir hier noch ein Paradies der Privatsphäre.

STANDARD: Politisch muss man doch viele Dinge vertraulich halten? Sie sind – anders, als man das von vielen Grünen kennt – nicht apodiktisch gegen das Freihandelsabkommen TTIP, das ja im Wesentlichen geheim verhandelt wird. Da kommt es wohl auf das richtige Maß an?

Van der Bellen: Ja, das ist nicht immer ganz einfach. Dass man bei Verhandlungen hin und wieder eine Woche oder auch drei Wochen etwas vertraulich verhandeln können muss, damit tragfähige Lösungen überhaupt möglich werden, ist klar. Wenn alles jederzeit im Licht der Öffentlichkeit passiert, dann sind Verhandlungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Frage ist: Wann gebe ich was weiter? Das ist eine Gratwanderung. Aber das ist kein TTIP-Phänomen, das ist in jeder Verhandlung so.

STANDARD: Was hätten Sie anders gemacht, wo hätten Sie, rückblickend betrachtet, ehrlich sagen müssen, dass da etwas falsch läuft? In Ihrem Buch habe ich keine solche Stelle gefunden ...

Van der Bellen: Wie meinen Sie das? Politisch?

"Es gibt Sachen, die mich im Nachhinein schon geärgert haben, weil ich dem Konflikt ausgewichen bin."
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STANDARD: Politisch. Persönlich werden Sie ja nicht sagen: Es war ein großer Fehler, in die Politik zu gehen, oder?

Van der Bellen: (lacht) Nein, das werde ich nicht sagen. Aber es gibt Sachen, die mich im Nachhinein schon geärgert haben, weil ich dem Konflikt ausgewichen bin. Wann hat sich die Frage gestellt, ob sich Österreich am Tschad-Einsatz beteiligt?

STANDARD: 2007.

Van der Bellen: Ja, richtig. Da ist monatelang verhandelt worden: Wie viele Soldaten schicken die Franzosen, wie viele schicken die anderen? In der "Neuen Zürcher" waren durchaus kritische Kommentare, dass das im Kern eine französische Aktion ist mit einigem Beiwerk ...

STANDARD: Ein nicht ganz unberechtigtes Argument?

Van der Bellen: Das war es de facto – na und? Die kennen sich am besten aus in der Region. Ich war jedenfalls der Meinung: Die Voraussetzungen für eine Beteiligung des Bundesheeres liegen vor. Ich habe das unter vier Augen auch der damaligen Außenministerin Ursula Plassnik gesagt. Einige Wochen später merke ich, dass unsere außenpolitische Sprecherin und unser Sicherheitssprecher sich darauf geeinigt haben: nein, doch kein Bundesheer im Tschad. Statt das auszutragen, statt zu sagen: "Moment, das könnt ihr nicht hinter meinem Rücken machen!", habe ich klein beigegeben. Das war mir so zuwider, zuerst Ja zu sagen und dann Nein, weil sich parteiintern etwas geändert hatte.

STANDARD: Und Ihre Konsequenz daraus?

Van der Bellen: Man muss im Einzelfall entscheiden: Ist es einem der Mühe wert, sich da einer Kampfabstimmung auszusetzen, oder geht man den Weg des geringeren Widerstands. Ich hätte das ausfechten sollen, ich wäre vielleicht untergegangen. Na und? Es wäre nicht das erste Mal gewesen.

STANDARD: Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich jetzt ehrlich frage, ob Sie sich schon zu einer Kandidatur entschlossen haben? Sie haben geschrieben, dass Ihre Entscheidung bei Erscheinen des Buches vielleicht noch nicht gefallen sein wird. Haben Sie entschieden?

Van der Bellen: Vielleicht. Aber ich werde zum richtigen, angemessenen Zeitpunkt diese Entscheidung Ja oder Nein bekanntgeben. Und jetzt scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Nebenbei: Alle anderen tun es ja auch nicht.

STANDARD: Aber Sie berichten, offenbar nicht ohne Koketterie, dass Sie zweimal in der Woche von wildfremden Menschen angesprochen werden und zur Kandidatur aufgefordert werden, dass Sie es doch machen sollen?

Van der Bellen: Ist das kokett? Hätte ich den Part aus dem Buch wieder rausnehmen sollen? (lacht) Natürlich freut einen das in gewisser Weise – aber es belastet einen auch, denn es wird ja da ein Anspruch erhoben. Auf der anderen Seite: Wo fahre ich mit der U-Bahn, der Straßenbahn? Nähe sechster Bezirk, siebenter Bezirk, erster Bezirk. Das sind grüne Bezirke – jedenfalls nicht "feindliches Ausland".

STANDARD: Bei mir daheim in Favoriten würden Sie womöglich nicht einmal erkannt werden ...

Van der Bellen: Eben. Ich bin eh überrascht, dass mich so viele Leute kennen, wo ich doch so lange schon nicht mehr fernsehpräsent bin. Selbst jüngere Leute, wo ich mir denke: Der muss zwölf gewesen sein, als ich aus dem Parlament ausgeschieden bin – der kennt mich. Erstaunlich. (Conrad Seidl, 19.9.2015)