Thomas Mayr: "International gelten wir als Vorbild. So, wie alle in der Schulbildung nach Finnland blicken, schaut die Welt bei der Berufsausbildung nach Österreich."

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STANDARD: Nach der Pflichtschule beginnen 40 Prozent der Jugendlichen mit einer Lehre. Ist diese noch attraktiv genug?

Mayr: Das hängt vom Jugendlichen ab. Manche wollen länger im geschützten Schulbereich bleiben, andere blühen in einer Lehre richtig auf. Die Arbeitslosigkeit ist für Lehrabsolventen jedenfalls relativ niedrig, und auch ihr Einkommen nach Ausbildungsende ist deutlich besser als das von AHS-Absolventen. Eine prinzipielle Attraktivität ist durchaus gegeben.

STANDARD: Welche Anreize gibt es, eine Lehre zu absolvieren?

Mayr: Es kommt auf die Ziele, Motivation und Begabungen der Jugendlichen an. Für manche ist die Lehre die beste Ausbildung, für andere ist sie das nicht. Die Herausforderung ist, für jeden die am besten geeignete Ausbildung zu finden.

STANDARD: Das funktioniert nicht immer: 14 Prozent der Lehrlinge brechen ihre Ausbildung ab.

Mayr: Die 14 Prozent sind ein relativ guter Wert, Abbrecher gibt es in jeder Ausbildung. Mit der Zeit erkennt man eben, dass der Beruf oder das Unternehmen nicht passt.

STANDARD: Wie ließe sich das verhindern?

Mayr: Ein Schlüssel ist die Berufs- und Bildungsberatung an den Schulen von den regionalen Wirtschaftskammern oder dem AMS. Es gibt hier ein breites Angebot an Testungen, mit denen Jugendliche ihre Stärken und Schwächen herausfinden können. Aber wir haben noch Verbesserungspotenzial.

STANDARD: Wo müsste man sich verbessern?

Mayr: In Salzburg wurde von der Wirtschaftskammer und dem Landesschulrat vereinbart, dass es ein flächendeckendes Angebot an solchen Talentechecks für alle Jugendlichen gibt. Das wäre ein guter Ansatz für ganz Österreich.

STANDARD: Trotzdem sinkt die Zahl der Lehrlinge seit einigen Jahren und soll laut Prognosen des AMS weiter sinken. Welche Gründe hat das?

Mayr: Vor allem die Demografie. Die Zahl der 15- und 16-Jährigen sinkt seit einigen Jahren, und im Gleichklang damit die Zahl der Lehrlinge. Es war immer schon so, dass sich das parallel entwickelt. Jährlich gehen aber die Zahlen der Lehranfänger ein wenig stärker zurück, als sie durch die Demografie vorausgesagt werden. Das liegt daran, dass die Schulen mehr tun, um die Klassen kleiner werdender Altersjahrgänge voll zu behalten. Zusätzlich wird die Schulbildung von vielen Jugendlichen und Eltern als attraktiver wahrgenommen als die Lehre.

STANDARD: Also liegt es auch an dem Vorurteil, dass die Guten in die Schule gehen und die weniger Guten eine Lehre machen?

Mayr: Das würde ich nicht für Gesamtösterreich bestätigen. Es gibt eklatante Unterschiede in den Bundesländern: Salzburg, Tirol, Vorarlberg und Oberösterreich zeigen, dass es anders sein kann. Aber wir haben in gewisser Weise ein Imageproblem, was auch damit zu tun hat, dass die Schule oft als besser gesehen wird. Das Paradoxon: International gelten wir als Vorbild. So wie alle in der Schulbildung nach Finnland blicken, schaut die Welt bei der Berufsausbildung nach Österreich, Deutschland und die Schweiz. Denn die Länder mit dualer Berufsbildung haben tatsächlich bessere Ergebnisse am Arbeitsmarkt.

STANDARD: Inwiefern?

Mayr: Mehr duale Berufsausbildung in einem Land führt zu weniger Jugendarbeitslosigkeit – auch in Österreich. Die Bundesländer mit vielen Lehranfängern im Alter von 15 bis 16 Jahren haben am wenigsten arbeitslose 20- bis 24-Jährige. Das System wirkt, und dennoch hat es nicht so einen Ruf, den man sich erwarten würde, kennt man den internationalen Diskurs.

STANDARD: Welche Gründe hat das?

Mayr: Wir nehmen es für selbstverständlich an, dass Betriebe Lehrlinge ausbilden, und erkennen nicht, dass das international die Ausnahme ist. Dieses fehlende Stärkebewusstsein ist eine Spirale, die sich selbst verstärkt. Wir diskutieren die Lehrlingsausbildung zum Großteil unter einer Defizitagenda.

STANDARD: Das heißt?

Mayr: Anstatt dass man sich freut, dass es 115.000 Lehrlinge gibt, ärgert man sich über 9.000 Lehrlinge, die keine Stelle in Betrieben finden, oder über deren mangelnde Grundkompetenzen. Der Effekt: Diese Defizitagenda zeigt sich in der medialen Berichterstattung und der politischen Auseinandersetzung und führt zum Imageproblem.

STANDARD: Also ist es ein selbstgemachtes Problem?

Mayr: Ja, wobei man niemandem die Schuld zuweisen kann. Das sind eben Dynamiken, die entstehen.

STANDARD: Wo müsste man ansetzen, um das Image zu verbessern?

Mayr: Man sollte die Stärken der Lehre herausstreichen, etwa die Erfolge bei den Worldskills oder die Beschäftigungssicherung. Wir haben noch Handlungsbedarf bei der Durchlässigkeit. Die Berufsreifeprüfung ist toll, weil sie einen völligen Kurswechsel an der Uni erlaubt. Aber noch wichtiger ist, die höhere Berufsbildung zu stärken und auszubauen. Man kann derzeit innerhalb der Berufsausbildung höhere Abschlüsse erwerben – etwa mit Meisterprüfungen, Werkmeisterschulen und Fachakademien. Die Klarheit der akademischen Karriere mit Matura, Bachelor, Master und PhD gibt es in der Berufsausbildung aber nicht.

STANDARD: Sollte man also die Abschlüsse der Berufsausbildung jenen der Allgemeinbildung gleichsetzen?

Mayr: Ja, und zwar nicht nur in der Berufseinmündung, sondern auch in der Definition von Qualifikationsleitern. Da schaue ich gerne in die Schweiz, denn dort werden die auf die Lehre aufbauenden Höherqualifizierungen der Tertiärstufe zugerechnet. Sie stehen also gleichwertig neben Universitäten und Fachhochschulen. So etwas führt dazu, dass die Lehrlingsausbildung an Attraktivität gewinnt.

STANDARD: Nicht nur die Zahl der Lehrlinge sinkt, sondern auch jene der ausbildenden Betriebe. Woran liegt das?

Mayr: Hauptsächlich an der Demografie und dem großen Anteil an jungen Leuten, die nach den neun Pflichtschuljahren Defizite in Rechnen, Lesen und Schreiben haben. Viele Unternehmen sagen, dass sie deshalb Schwierigkeiten haben, geeignete Lehrlinge zu finden. Die Wirtschaftskrise hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Unternehmen in ihren personellen Entscheidungen eher verhalten agieren.

STANDARD: Das zeigen auch die Zahlen: Im Jahr 2014 gab es 3240 sofort verfügbare Lehrstellen und fast doppelt so viele sofort verfügbare Lehrlinge. Wie erzielt man hier ein besseres Matching?

Mayr: Die Zahlen sind deutlich höher, weil viele offene Stellen gar nicht beim AMS gemeldet werden. Man muss die Grundkompetenzen von allen Jugendlichen sicherstellen. Laut Pisa haben 25 Prozent der Schüler nur rudimentäre Fähigkeiten in Mathematik, Lesen und Schreiben – in den guten Ländern sind es zehn Prozent. Das wäre auch ein Ziel für uns, dann hätten wir automatisch mehr Jugendliche, die für die Unternehmen infrage kämen. (Selina Thaler, 2.11.2015)